Aus dem Herzen Deutschlands
Erzählungen und Textcollagen
von Amalie Wissing 1997
Painting ©reated by Knut Kargel
Zu diesem Buch
Sprache und Schreiben sind mir Wegbegleiter seit jeher. Sprache als eines unserer Werk-zeuge, mit denen wir töten oder Türen öffnen. Schreiben als eine besondere Form der Annäherung an das, was Realität genannt wird.
Als ich vor Jahren erlebte, wie die Muttersprache in mir erstarb, machte ich mich auf in den Süden. Wie ein greises Kind habe ich in der neuen Sprache, ihrem Klang und ihren Bildern die Welt neu entdeckt. Und mich in ihr.
Ich konnte wieder schreiben. Jetzt in spanischer Sprache.
Ángel Caffarena in Málaga hat in seiner Reihe „Cuadernos de David“ meinen ersten Gedichtband „Rosas y Azafrán“ veröffentlicht.
Jetzt lebe und arbeite ich seit einigen Jahren im Landschulheim am Solling. Dort habe ich diese Erzählungen geschrieben. Vor allem Johanna, Dorota, Svenja, Nora und mein Kollege Reinhard Pietsch haben mich immer wieder gefragt, wann ich veröffentliche.
Das Buch liegt nun vor.
A. W.
Love Parade
Painting ©reated by Marie-Denise Douyon
„Immer wieder können wir uns vornehmen, das Gute zu tun. Niemandem ein Leid zufügen. Lieber einen Schritt zurückgehen, damit unsere Faust ins Leere trifft. Immer wieder können wir beten: Herr...“ - ein tiefes Atemholen folgte und in eine höhere Klangfarbe eingebettet warf der Mann die folgenden Worte einzeln in die Luft wie bunte Bälle - „oder Herrin, hilf uns, barmherzig zu sein.“
„Die Fahrkartenkontrolle. Die Fahrausweise bitte. Hier noch jemand zugestiegen?“
„Ja.“
„Berlin. Umsteigen in Braunschweig. Gleis sechs.“
„Danke.“
„Noch jemand zugestiegen hier? Die Fahrausweise bitte...“
„Wie ich schon sagte, barmherzig müssen wir sein. Auch uns selbst gegenüber.“
„Sind hier noch zwei Plätze frei?“
„Die beiden.“
„Mist. Der Rucksack passt nicht. Hat man Sie vor die Tür gesetzt oder reisen Sie immer mit so viel Gepäck?“ fragt der Reisende. „Kann ich den Rucksack auf Ihre Tasche werfen oder ist da Omas Meißener drin?“
„Die Tasche gehört der Dame.“
„Verzeihung. Dürfte ich meinen Sack auf Ihrer Unterwäsche platzieren?“
„Vielleicht ginge es ja auch umgekehrt?“
„Nicht schlecht. Icy-Ice sagt bei guten Angeboten fast immer ja“, sagt er und knautscht dabei eine nach der anderen zwei schwarze Lederjacken zusammen. Die quetscht er nun zwischen Schiebetür und Kopfstütze. Dann zieht er an einer Hundekette seinen jüngeren Begleiter aus dem Gang in das Abteil, setzt sich und weist dem anderen seinen Platz zu.
„Icy-Spicy ist nicht ganz zufrieden“, bemerkt er. „Zweite Klasse behagt ihr nicht. Die Enge macht sie nervös. Aber es war nichts mehr zu machen. Alles ausgebucht.“
„Ein schönes Halsband. Aquamarine?“
„Passend zu den Augen.“
„Sagen Sie, können Sie das Fenster schließen? Sie erkältet sich leicht.“
„Es ist kühl für die Jahreszeit. Viel zu kühl.“
Icy-Spicy hat sich zusammengerollt und knabbert metallblauen Lack von den Nägeln.
„Lass das! Du bist kein Straßenköter!Dein Analytiker hat mir gesagt, du bist o.k., Baby. Kapiert?“
Icy-Spicy stößt einen Seufzer aus und drückt den rasierten Schädel mit den beringten Ohren in das Polster. Als er beim Fratzen schneiden die Kopfhaut in Falten zieht, springt die tätowierte Spinne mit den aquamarinfarbenen Augen beinahe aus dem Gesicht heraus.
„Wie soll man sein Licht in die Finsternis tragen,wenn es kein Erbarmen gibt?“ murmelt der Alte. „Licht, Finsternis, Erbarmen“, fährt er zerstreut fort. „Manchmal kommt alles zusammen und wir tragen Licht und Finsternis und Erbarmen in uns. Manchmal teilen wir uns die Rollen ...“
„Kaffee, Schokolade, heiße Würstchen, belegte Brote, Zigaretten, Kaffee, Schokolaade?“
„Wasser. Stilles.“
„Dreifünfzig.“
„Einmal Würstchen und Kaffee.“
„Käsebrot und heiße Schokolade.“
„Bitte sehr. Acht Mark der Herr und acht die Dame. Einmal passend und einmal zwei Mark zurück. Danke vielmals und gute Reise, die Herrschaften.“
Icy-Ice holt einen silbrig schimmernden Metallnapf aus dem Rucksack, füllt ihn fingerbreit mit stillem Wasser und stellt ihn vor Icy-Spicy auf den Boden.
Icy-Spicy winselt. Seine Augen folgen den scharrenden Füßen am Boden. Er fixiert den Napf.
„Sie erlauben!“ Der Alte beugt sich vor, hebt die Schüssel und hält sie Icy-Spicy hin.
Icy-Spicy schlabbert das Nass und stupst den Napf zur Seite. Der Alte setzt ihn ab.
„Nein, mir musst du die Hand nicht abschlecken“, versucht die Frau Icy-Spicy abzuwehren, „ich habe nur zugeschaut. Aber du möchtest sicher etwas von meinem Käsebrot!“ schaut sie zu Icy-Ice hinüber.
„Von mir aus“, brummt er. „Sie hat ihre Kilojoule heute noch nicht gehabt. Ich muß ständig darauf achten. Rundungen an ihr stoßen mich nämlich ab. Sie weiß das, nicht Spicy?“
Bei den letzten Worten spitzt er seine Stimme zu wie einen Pfeil, der mitten ins Herz trifft.
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