Aus dem Herzen Deutschlands
Erzählungen und Textcollagen
von Amalie Wissing 1997
Painting ©reated by Knut Kargel
Zu diesem Buch
Sprache und Schreiben sind mir Wegbegleiter seit jeher. Sprache als eines unserer Werk-zeuge, mit denen wir töten oder Türen öffnen. Schreiben als eine besondere Form der Annäherung an das, was Realität genannt wird.
Als ich vor Jahren erlebte, wie die Muttersprache in mir erstarb, machte ich mich auf in den Süden. Wie ein greises Kind habe ich in der neuen Sprache, ihrem Klang und ihren Bildern die Welt neu entdeckt. Und mich in ihr.
Ich konnte wieder schreiben. Jetzt in spanischer Sprache.
Ángel Caffarena in Málaga hat in seiner Reihe „Cuadernos de David“ meinen ersten Gedichtband „Rosas y Azafrán“ veröffentlicht.
Jetzt lebe und arbeite ich seit einigen Jahren im Landschulheim am Solling. Dort habe ich diese Erzählungen geschrieben. Vor allem Johanna, Dorota, Svenja, Nora und mein Kollege Reinhard Pietsch haben mich immer wieder gefragt, wann ich veröffentliche.
Das Buch liegt nun vor.
A. W.
Aischa
Painting ©reated by Brenda Faria
Aischa ist kein Kind mehr.
Irgendwann hören wir alle auf, Kinder zu sein.
Aischa wollte noch Kind bleiben.
Viele wollen das. Aber wer fragt schon danach?
Aischa ist schwanger.
Viele Frauen sind schwanger.
Aischa ist jung.
Viele Frauen sind jung.
Aischa weiß nicht, wer der Vater des Kindes ist.
Viele Frauen wissen das nicht. Verheiratet oder nicht. Das kommt vor.
Aischa ist vergewaltigt worden.
Viele Frauen werden vergewaltigt. Von ihren Männern, von Freunden, von Fremden.
Aischa wird geschlagen.
Viele Frauen werden geschlagen. Jeden Tag. Überall auf der Welt.
Aischa wird gedemütigt.
Viele Frauen erfahren das Tag für Tag. Mit Worten und Taten.
Aischa will sich das Leben nehmen.
Viele Frauen wollen das. Manchmal klappt es. Manchmal nicht.
Aischa will nicht schwanger sein.
Viele Frauen wollen das nicht. Manche können etwas dagegen tun. Manche nicht.
Aischa kann nie mehr zu ihrer Familie zurückgehen.
Viele Frauen werden von ihren Familien verstoßen.
Aischa hat keine Familie mehr.
Viele Frauen verlieren ihre Familie. Auf einen Schlag.
Aischa wird nie einen Mann lieben können.
Viele Frauen haben nie einen Mann geliebt. Viele werden nie einen Mann lieben.
Aischa wird sich nie wieder sicher fühlen.
Viele Frauen haben sich nie sicher gefühlt und werden sich nie sicher fühlen.
Aischa wird immer Angst haben.
Viele Frauen haben Angst. Tag um Tag. Nacht um Nacht. Jede Minute.
Aischa hat immer verschwitzte Hände.
Viele Frauen haben verschwitzte Hände. Kalte, verschwitzte Hände.
Aischa zuckt bei jedem neuen Geräusch zusammen.
Viele Frauen zucken ständig zusammen.
Aischa kann nachts nicht mehr schlafen.
Vielen Frauen geht es so. Manche nehmen Tabletten. Manche werden verrückt.
Aischa bebt und zittert unaufhörlich.
Viele Frauen zittern so. Wie die Blätter einer Pappel.
Aischa leidet Hunger.
Viele Frauen leiden Hunger. Hunger und Durst. Manche vertrocknen. Manche verhungern.
Aischa hat keine Zuflucht.
Viele Frauen leben auf der Straße. Auf Müllhalden. Auf Friedhöfen.
Aischas Zähne verfärben sich.
Viele Frauen verlieren die Zähne. Schwanger oder nicht.
Aischa lacht nicht mehr.
Vielen Frauen ist das Lachen schon lange vergangen.
Aischas Haare sind stumpf und brüchig.
Manchen Frauen fallen sie aus. Büschelweise. Ganz kahl werden sie.
Aischa singt nicht mehr.
Vielen Frauen kommt kein Ton mehr über die Lippen. Geschweige denn ein Lied.
Aischas Bewegungen sind schnell und kurz.
Viele Frauen bewegen sich in diesem Stakkato. Wie Marionetten.
Aischa widerspricht nicht mehr.
Viele Frauen nehmen Dinge widerspruchslos hin.
Aischa wehrt sich nicht.
Viele Frauen haben keine Kraft, sich zu wehren. Wer kann das schon?!
Aischa hat keine Träume mehr.
Träume?! Wer hat die schon?!
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