Der V-Mann

Painting ©reated by Filip Van Roy

Leo ist Berichterstatter und lebte seit Jahren in den unterschiedlichsten Hotels und Herbergen der Welt.
Die Wahl seiner Unterkunft hing natürlich von den Gegebenheiten vor Ort ab, aber er erlebte sie immer im Zusammenhang mit dem Thema, an dem er gerade arbeitete. Viele Jahre pendelte er nun schon zwischen ausufernden Krisengebieten der Welt und den Enklaven des Überflusses.
Leo wird fünfzig. Bald ist es soweit. Aber seit Wochen fühlt er eine seltsame innere Unruhe. Irgend etwas ist los. Ist anders als sonst. Leo führt es auf seine allgemeine Müdigkeit zurück.
Nenn es, wie du willst, sagt er zu Carlos, seinem Freund, einem Fotoreporter, der ihn oft begleitet hatte, wenn es anderen zu brenzlig wurde. Meine Kondition ist jedenfalls nicht mehr die beste.
Hast du deswegen den Job geschmissen?, fragt Carlos.
Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber als ich mir gestern in meinem Hotelzimmer den ersten Wodka-Lemon gemixt habe und das leise Knistern und Knacken der bizarr zerspringenden Eiswürfel an mein Ohr drang und dieser bittere Gestank der Armut da draußen mir noch in der Nase biss, war ich fertig. Und als ich dann meinen Bericht in die Maschine tippte, dachte ich, Worte, nichts als Worte, reihen sich ein und schmiegen sich wortlos aneinander wie alte Bekannte, aber die Menschen, von denen ich berichte, werden sich immer fremder und feindseliger.
Was ist los mit Ihnen?, hatte sein Chefredakteur ihn angerufen. Wo bleibt ihr Biss, Krüger? Ihre Berichte stimmen nachdenklich. Zu nachdenklich, höhnte er. Sie vergraulen uns die Leser und die Anzeigenkunden! Kitzeln Sie ihren verdammten Jagdinstinkt wach!, brüllte er in den Hörer, bringen Sie uns Trophäen! Aber halten Sie um Himmels Willen das Elend der Welt in Schach! Sie haben eine letzte Chance!, droht er ihm und hatte den Hörer aufgeknallt.
Leo kannte die Spielregeln. Je betroffener und entsetzter er war, desto vorsichtiger musste er die Worte wählen.
Wie Totempfähle rammte er sie in den Boden. Um Kindergefängnisse, Slums und Bordelle unserer Dritten Welt.
Er sprach nie von der Dritten Welt.
In einem Artikel hatte er auch auf die sprachliche Verunglimpfung der Menschen in der Dritten Welt hingewiesen und gefordert, diesen Begriff aus den Medien fern zu halten.
Man unterstellte ihm, er wolle der Wirtschaft schaden und Subventionen und Entwicklungshilfen verhindern und riet ihm, sich nicht wichtig zu machen, denn schließlich sei er nicht einmal ein Betroffener. Allerdings müsse man ihm als Berichterstatter eine gewisse Blauäugigkeit nachsehen, denn er könne schließlich nicht überschauen, dass eine weltweite Gleichberechtigung aller Staaten unweigerlich den Zusammenbruch unseres Weltwirtschaftssystems nach sich ziehen würde. Eine Katastrophe. Nicht auszudenken, usw. usw.
Du siehst, mir steht nicht mehr zu als einem Gerichtsschreiber, bemerkt Leo bissig.
Schau mich an!, meint sein Freund Carlos. Verdiene ich mein Brot auf ehrliche Weise? Arbeite ich nicht mit dir zusammen, weil wir uns beide am Trog des Elends den Magen verdorben haben?
Mach deinen Job und reg dich nicht auf!, riet ihm ein Kollege, der Leo vor einigen Tagen in Asmara besucht hatte. Schließlich bist du nicht mehr der Jüngste! Außerdem hast du´s bald geschafft und dann ist das Jungvolk für die Auflagen verantwortlich. Und du kassierst nur noch die Preise. Ist doch eine feine Sache, oder?
Ich pfeife auf die Auszeichnungen, winkte er ab. Mir wird kotzübel, wenn ich wie ein pikantes Häppchen herumgereicht werde: Haben Sie gelesen? Sein letzter Kriegsbericht!? Ergreifend! Finden Sie nicht?
Du brauchst wohl keine Anerkennung, was? Der Kollege war gereizt.
Die bekomme ich, wenn eine Auflage plötzlich zurück geht, antwortete Leo abwesend, denn dann weiß ich, dass ich Dinge ins Rollen bringen kann.
Dinge ins Rollen bringen! Das ich nicht lache!. erboste sich der Kollege. Der Rubel muss rollen! Sonst nichts!
Der Euro ist dran, verbesserte Leo den Kollegen. Ich denke, es dauert nicht mehr lange, bis Tochter Europa ihre Trickkiste öffnet und eine legale Rückführung illegalen Kapitals anbietet. Man darf es sich mit niemandem verderben, oder?, fragte er spöttisch.
Was ich keineswegs als unmoralisch ansehe, warf der Kollege verärgert ein.
Klingt wie ein zur Buße drei Vaterunser auf modern halt, meinte Leo trocken und war froh, dass der Kollege nicht länger bleiben wollte.
Im offenen Jeep fuhren sie zum Flughafen.
Ich verstehe diese Leute nicht, sagte der Kollege während der Fahrt. Was klopfen diese schwarzen Jungs da ständig auf die Haube? Laufen rum wie Penner, lachen und machen das V da, das Victoryzeichen. Was wollen die eigentlich gewinnen?
Das V ist schon lange kein Siegeszeichen mehr, antwortete Leo knapp. Es ist die aufgeklappte Schere.
Meinst du, die Schwarzen wollen sagen, wir gehen getrennte Wege?, fragte der Kollege beunruhigt.
Frag sie doch einfach, wenn du das nächste Mal kommst!, schlug Leo vor und parkte den Jeep scharf.

Wenige Tage später schrieb Leo seinen letzten Bericht.
Er schrieb von Verwundeten, die sich in einem verwüsteten Vorort von Asmara versteckt hielten. Vermutlich hatten sie vergeblich versucht, bis zu einem Vorposten der verbotenen Volksfront vorzustoßen. Viele waren tot und die Verletzten vollkommen verängstigt, verwirrt, konnten sich nicht verständlich machen.
Die Bilder verschwinden nicht. Auch nicht der Geruch. Das Elend.
Vor seinen Augen eine verlassenen Hütte, ein verrostetes Gestell. Eine verkohlte Leiche.
Als er sich ihr nähert, fliegt ein Schwarm schwarzer Fliegen auf und Leo blickt in ihren gespaltenen Schädel.

































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