Ich liebe Götz George

Erzählungen

von    Amalie Wissing    1999

 

Painting ©reated by Gisela Brunn

Papermoon

Painting ©reated by Gregg Simpson

Sie sehen es ja selbst, sagte der Taxifahrer,während er bei laufendem Motor das Geld entgegennahm und sich mit der rechten Hand auf den Beifahrersitz stützte. Weiter schaffe ich es nicht.
Er drückte seine linke Hüfte gegen das Lenkrad.
Die Scheibenwischer fiepten. Rechts. Links. Rechts.
Er ist Linkshänder, dachte Greta.
Der Fahrer zog seine glattlederglänzende Geldbörse aus der Gesäßtasche, legte die Scheine ordentlich übereinander und steckte sie zu den anderen.
So wie das hier aussieht, er klappte die Geldbörse zusammen, schafft das nur noch ein Geländewagen. Erst vertrocknet alles und dann saufen wir ab.
Seine Geldbörse wechselte in die Linke. Seine Rechte bewegte er wie ein Sämann, hob Schultern und Kinn leicht an und verharrte für den Bruchteil einer Sekunde in dieser Haltung, als sei er eine Marionette.
Ich kann von Glück reden, ächzte er, während er sich vorbeugte und auf den Knopf des Handschuhfachs drückte, wenn ich hier heil herauskomme.
Ist das der Weg? fragte Greta und zog am Hebel der Beifahrertür.
Genau, sagte er, duckte sich und schaute durch die beschlagene Scheibe. Da geht´s rauf. Viel Glück.
Als Greta die Tür zuschlug, sah sie, wie die Klappe vom Handschuhfach herunterfiel.
Scheißwetter, sagte der Taxifahrer, gab Gas und wischte mit dem Ärmel das Wasser von seiner Scheibe.
Greta war nass bis auf die Knochen.
Donner rollte über das Land. Asphaltblauer Regen fegte zischend über die Hänge und ein gewaltiger Sturm tobte durch den silbergrauen Olivenhain. Unter dem schweren Regen strömte die Erde und färbte das Meer rot.
Gretas Füße versanken im Lehm. Mit ausladenden Ruderbewegungen versuchte sie, sich im Gleichgewicht zu halten, rutschte und patschte von einer Pfütze in die andere und kämpfte sich steifbeinig den Hang hinauf.
Ich hätte andere Schuhe anziehen sollen, ging ihr durch den Kopf.
Der Himmel wurde nachtdunkel.
Dem Plan nach, der ihr am Tag zuvor von einer Kanzlei zugestellt worden war, musste der Weg vor einer Mauer enden.
Dahinter lag das Haus von Pilar.
Während ihrer langen Reise hatte Greta den Plan immer wieder auseinander gefaltet, das Papier auf dem Knie glatt gestreift und war mit dem Zeigefinger der dünnen Bleistiftlinie gefolgt, die sich durch ein engmaschiges Gewirr von Straßen schlängelte und dann vom Zentrum aus den scheinbar einzigen Weg ins offene Feld nahm, wo sie schließlich einen roten Punkt einkreiste.
Genau dort war sie angekommen.
Sie stemmte sich gegen ein schief in den Angeln hängendes Tor, über das vom Garten aus eine Bougainvillea rankte.
Es tat einen dumpfen Schlag und das Tor fiel um. Greta schrie auf. Sie hatte sich an den Stacheln der Bougainvillea verletzt und die wiederum wurde durch das fallende Tor so geschüttelt, dass die restlichen Blüten abfielen.
Aber das sah Greta nicht. Sie spürte das warme Blut auf der Wange und hielt ihr Gesicht in den kühlen Regen.
Voller Angst empfand sie plötzlich die Dunkelheit um sich und fing an zu summen.
Es war das Kinderlied von Pilar, Gretas Freundin. Von ihr stammten Text und Melodie. Immer wenn sie erblindet spielten, hatte sie es gesungen. Im Laufe der Jahre waren unzählige Strophen hinzugekommen. Pilar hatte sie aufgeschrieben und Greta fast alle auswendig gelernt.
Erst nachdem sie die Haustür aufgeschlossen hatte, den Schalter fand und Licht ins Haus ließ, fühlte Greta sich wieder geborgen.

Aufgrund des Liedes von Pilar kannte sie sich aus. Sie konnte alle Räume nennen und ihre Größe in Schritten angeben, wobei zwei Kinderschritte ein großer Schritt waren. Sie konnte aufsagen, wie sie von welchem Ausgangspunkt des Geländes auch immer sicher an jedes gewünschte Ziel kam.
Na dann mal los, sagte sie und entledigte sich der lehmverklumpten Schuhe. Sie schloß die Augen und erinnerte den Vers fürs Bad vom Eingang aus und fing an, ihre Schritte zu zählen, bog nach rechts, dann nach links und stieß gegen eine Bodenvase. Siehst´e, bibberte sie, das Lied ist doch zu alt.
Mit offenen Augen ging sie weiter, spürte, wie die Wassertropfen ihren Hals entlang rutschten und das Kleid sich an ihrem Körper festsaugte.
Als sie sich im Spiegel angähnte, wollte sie nur noch baden. Sie stellte den Durchlauferhitzer an, ließ Wasser ein, zog sich aus und stieg in die Wanne.
Weil sie eindöste und erschrak, als sie im Wasser zusammensackte, stieg sie wieder aus, wickelte sich in ein riesiges Badetuch, schlurfte zum größten Bett des Hauses und tauchte unter dem warmen Plumeau ab in die Träume.
Pilar.
Pilar war vor drei Monaten gestorben und eingeäschert. Aus diesem Grund hatte Greta den Lageplan des Hauses erst jetzt bekommen. Den Schlüssel hatte sie schon lange.
Aber es gab eine Abmachung zwischen ihr und Pilar, daß sie das Haus erst drei Monate nach deren Tod aufsuchen sollte.
Hier, hatte sie damals zu Greta gesagt und ihr den Schlüssel über den Tisch geschoben. Vielleicht findest du in dem Haus die Antwort auf deine Frage.
Was soll das? hatte Greta sie kopfschüttelnd angeschaut und sich zurückgelehnt.
Ist mein Leben ein Film, den ich beliebig zurückspulen kann? , hatte Pilar gefragt. Ich erinnere Bilder, Gesten, Blicke. Es ist ein unermesslicher Schatz. Du weißt, ich scheue die grellen, leicht geschürzten Worte. Sie kommen daher, brüchig wie die Segel einer Barke, die man in keinem Hafen kennt. Was soll ich also sagen? Mir fehlen die Worte. Sie sind mir entwischt wie flinke, silberne Fische, und dennoch könnte ich ein Netz knüpfen, in dem wir beide, du und ich, zappeln, bis es uns die Kehle zuschnürt vor Erstaunen. Und in deinen Augen wäre ich vielleicht nicht einmal eine Lügnerin, denn du hättest eine Antwort bekommen, Trauer oder Freude empfunden und eine reiche Beute gemacht. Und ich würde dir fremd, weil du ein Spiel ernst nimmst und die ernsten Dinge leichtfertig handhabst. Ich kann mich erinnern. Für mich. Ganz alleine. Alles nachempfinden. In einem Maß, das sich immer wieder verändert. So wie ich. Und das macht es erträglich.
Es? Welches es?
Erinnere dich an deine Frage, lachte Pilar.
Und was hat das Haus damit zu tun?
Geh, und finde es selbst heraus.
Wann?
Wenn ich eingeäschert bin, überlass mich dem Wind, dann warte noch drei Monate.
Was soll denn das jetzt?
Sieh es als einen Tick an, wenn du willst.
Und die drei Monate?
Zeit, um mich freundlich auszublenden. Oder auch nicht, lachte sie wieder.

Die Frauen hatten sich in Berlin kennengelernt.
Greta kam gerne in diese Stadt, wohnte dann im Hotel Kronprinz, gleich hinter der Brücke über die Güterbahnlinie Halensee zwischen Kurfürstendamm und Rathenauplatz. Von dort aus konnte sie gemütlich ins Zentrum bummeln, Kinos, Theater und Cafés besuchen oder ihre Agenda organisieren.
An dem Tag, an dem sie Pilar zum ersten Mal traf, hatte sie auf dem Zimmer gefrühstückt, saß auf dem Sofa unter dem Fenster und blätterte im ´Stern`.
Plötzlich hielt sie inne. Nichts an ihr bewegte sich. Nicht einmal die Augen.
Sie schienen irgendwo festzuhängen.
Das ist nicht möglich, ist nicht wahr, unmöglich! schrie es in ihr auf.
In hohem Bogen flog das Magazin aufs Bett. Sie war wie versteinert. Nur ihre Augen bewegten sich. Langsam wie eine Spinne krochen sie das Bett hoch.
Du bist total verrückt! Sie schlug sich an den Kopf. Sprang auf. Wusste nicht, wohin. Rannte ins Bad. Kramte. Schraubte an Flaschen und Tuben. Nein. Nichts wie raus. Fenster auf. Fenster zu. Keinen Schritt weiter. Nein, nein. Gleich bin ich so weit. Gleich ist alles vorbei, und nichts ist geschehen, und du wirst sehen, dass du dir nur etwas eingebildet hast, und du wirst lachen und alles vergessen. Gleich, gleich ist alles vorbei...
Sie kauerte sich auf den Boden, legte den Kopf auf die Knie, hielt die Beine umschlungen und wippte hin und her...
Irgendwann ließ sie sich weinend fallen.
So lag sie, bis sie ruhiger wurde. Dann zog sie den ´Stern` ganz nah heran und betrachtete das Bild, dem sie versucht hatte zu entkommen. Behutsam glitten ihre Finger über das papierne Gesicht. Sie sah ernst aus und tief in Gedanken. Wie jemand, der nicht gestört werden darf.
Wenn es nichts mehr zu verstehen gibt, ist man nie darauf vorbereitet.
Vielleicht wurde ihr deswegen schwindlig.
Nein, nein. Kein Wort mehr. Kein Satz.
Nichts. Gar nichts.
Sie nahm Mantel und Tasche und verließ das Hotel.

Pilar war Bildhauerin und hatte an jenem Vormittag einen anstrengenden Pressetermin hinter sich gebracht.
Wären Pilar und Greta mit einem Farbtupfer markiert gewesen, hätte man ihre Wege hoch aus der Luft verfolgen können.
Im Zeitraffer wären sie kleine Billardkugeln gewesen, die wild auseinander stieben und dann, nach kurzem Aufprall an den Banden, unausweichlich aufeinander zu rollen.
Vor einem Zeitungskiosk rempelten sie zusammen.
Greta schneuzte sich gerade und Pilar hatte eine Laufmasche an ihrer rechten Wade entdeckt. So gerieten sie, die eine blind und die andere humpelnd, aneinander.
Sie schauten sich an, lachten schallend und sagten beinahe gleichzeitig, ich glaube, das ist der Beginn einer langen Freundschaft.
Und so war es.
Später saßen sie in einem Bistro.
Rauchten Zigarillos, tranken roten Burgunder,
sprachen über Pilars Skulpturen und Gretas Computerprogramme. Ihre Bewegungen liefen ineinander über. Sie waren sich nicht fremd.
Was hat dich heute nachdenklich gemacht? fragte Pilar.
Ein Foto von Götz George, antwortete Greta zögernd.
In meiner Werkstatt hängt auch eins, sagte Pilar und lächelte. Er darf mir über die Schulter gucken, wenn ich arbeite.
Kennst du ihn? fragte Greta vorsichtig.
Manchmal glaube ich, wir sind vom gleichen Stern, sagte Pilar, falls dir das als Erklärung genügt. Warum fragst du?
Heute morgen sah ich plötzlich sein Bild. Es ist, als ob ein Glas um mich zerbrochen wäre. Durchsichtig wie Luft spüre ich ihn und bewege mich in ihm wie in meinem Garten.
Pilar schaute sie liebevoll an.
Du empfindest Liebe, nicht wahr?
Wie kann ich etwas vorwegnehmen, das noch gar nicht passiert ist?! antwortete Greta hastig. Wir sind uns doch noch nie begegnet!
Wünsch es dir! warf Pilar ein.
Ich mach mich doch nicht lächerlich!, antwortete Greta aufgeregt.
Dann geh ihm aus dem Weg! war Pilars Antwort. Schick ihm ein zerdrücktes Kuscheltier, karierte Rosen, ein Phiölchen Sehnsuchtstränen..
Mach dich ruhig lustig über mich. Ich weiß, ich bin unmöglich, sagte Greta trüb.
Du bist! Also bist du nicht unmöglich, sagte Pilar. Ich mache mich nur lustig über deine Anstrengungen, dir selbst den Weg zu verstellen.
Welchen Weg?, fragte Greta.
Deinen! Du Dir Deinen!, antwortete Pilar.
Und du?, wollte Greta wissen.
Ich muss gehen, sonst erreiche ich den Flieger nach München nicht.
Jeden Frühling trafen sich die Frauen.
Da Pilar nicht wollte, dass Greta sie in ihrem Haus besuchte.
Und weil Greta überall und nirgends zu Hause war, überliess ein befreundeter Maler ihnen sein verwunschenes Haus. Zu ihrer großen Freude war er auch ein Gourmet und seine Küche bestens ausgestattet. Grund genug für die Frauen, sein Angebot anzunehmen.
Wenn sie nicht kochten, lasen sie, wenn sie nicht lasen, malten sie. Wenn sie nicht malten, dann aßen sie und wenn sie nicht aßen, dann schliefen sie.
Und wenn sie nicht mehr schlafen konnten, gingen sie spazieren.
So vergingen die Jahre.
Bis zum letzten Winter.
Pilar kam von einem Segeltörn zurück und rief Greta an.
Denk an den Schlüssel!, sagte sie am Ende des Gesprächs.
Welchen Schlüssel?, fragte Greta.
Den Schlüssel zum Haus. Findest du ihn?
Ich denke schon. Er muss hier irgendwo sein.
Dann fang an, ihn zu suchen. Und sag mir Bescheid, wenn du ihn hast.
Vielleicht wird ja noch alles gut.
So wie es ist, ist es gut.

Pilar nahm sich Zeit zum Sterben. So, wie sie sich auch Zeit zum Leben genommen hatte. Sie war unendlich traurig, aber nicht verzweifelt.
Sie kämpfte nicht gegen den Tod an.
Sie nahm ihn ernst. So, wie sie ihre Marmorblöcke ernst genommen hatte, die sie oft wochenlang sorgfältig studierte, bevor sie zum ersten Schlag ausholte.
Und genau so nahm der Tod langsam die Gestalt an, die Pilar ihm gab.

Greta wachte auf. Es war Mittag.
Sie wusste, sie würde aufstehen, sich anziehen und einen Tee kochen. Den Briefkasten sollte sie leeren und den Telefonbeantworter abhören. Dann musste die Tiefkühltruhe kontrolliert werden. Frühstücken wollte sie später.
Greta lachte. Mit Pilar hatte sie diese Situation mehr als einmal gespielt. Sie hatten es Chaos im Modalen genannt.
Greta stand auf. Ging ins Bad. Pinkelte. Wusch sich. Putzte sich die Zähne. Bürstete das Haar. Rollte Deo unter die Achseln. Verteilte Cremes auf Gesicht, Hals, Hände, Po. Dann ging sie an den großen Kleiderschrank und wählte mit geschlossenen Augen ein Kleid aus, das sich weich anfühlte.
Es war grün. Sie mochte kein Grün an diesem Morgen und entschied sich für eine schwarze Lederhose, die unheimlich gut roch. Mit dem gelben Top und ach so, ja, Socken... nein, bloß kein Tigerentenclub... sah sie aus wie eine Wespe.
Sie ging in die Küche und kochte sich einen Tee.
Es war still im Haus und draußen ein sonniger Herbsttag.
Greta öffnete die Fenster. Im Garten zwitscherten Vögel, die ihr sonst den Frühling ankündigten.
Sie ging hinaus. In der warmen Sonne las sie die Briefe an Pilar.
Im Haus stellte sie das Radio an.
Es war kalt. Sie schürte das Feuer im Kamin.
Vor dem prasselnden Feuer schlafen, träumte sie und richtete sich ein Lager aus bunten Decken und Kissen, die überall im Haus zu finden waren.
Aus dem Vorrat holte sie eine Flasche Rotwein. Gläser waren in der Vitrine. Sie zählte die Schritte zurück zum Kamin.
Stimmt, sagte sie, hockte sich auf den dicken Teppich und zündete sich ein Zigarillo an.
Wie das hier wohl weitergeht, dachte sie, und ihre Augen folgten dem Rauch des Zigarillo. Was meinst du, Pilar?, fragte sie und schenkte den Wein ein. Ich fühle mich so, als ob ich hier einbrechen würde. Aber ich danke dir für dein verdammtes Vertrauen!, und sie hob das Glas auf ihr Wohl.

Im Laufe der Nacht wurde Greta immer unruhiger. Je mehr sie nachdachte, desto unsicherer wurde sie. Sie hätte gerne mir jemandem gesprochen, der ihr einen Rat hätte geben können. Ihr sagen, was jetzt richtig oder falsch wäre. Aber wen? Ihr fiel niemand ein. Sollte sie bleiben? Gehen? Oder einfach jemanden bitten zu kommen? Nein, nein. Das war nicht abgemacht. So redete sie sich selber ins Gewissen.
Alte, du ziehst hier eine Nummer ab, die total behämmert ist, zürnte sie. Bist seit Jahren auf der Piste und kommst ins Schleudern? Nee, Süße, das nehm ich dir nicht ab. Gib´s zu, du hast Muffensausen. Ganz verdammtes Muffensausen, wenn du mich fragst. Traust dich nicht ran ans Eingemachte. Könnte hochgehen wie eine Stinkbombe. Und selbst? Auch nix Neues? Kein Virgin Island weit und breit, auf dem man sich propper im Schritt gibt und zurücklehnt und seine virtual realities reinziehst? Gib´s auf, Mrs. Cool zu spielen. Mich lenkst du nicht ab. Zapp´s dir ins Programm!
Als der Morgen graute, stand Greta auf und ging spazieren.
Im Olivenhain begegnete sie einer Frau.
Filomena. Die Frau, die die Oliven einlegt.
Nirgendwo findest du bessere, hatte Pilar gesagt. Diese hier sind handverlesen und mit dem Stein aufgeschlagen. Eine nach der anderen. Hier, probier mal. Köstlich. Oder?
Greta ging auf Filomena zu.
Hallo, Filomena. Ich bin Greta.
Sie kennen mich? fragte Filomena und wischte sich die Hand an ihrem schwarzen Rock, bevor sie sie zum Gruß ausstreckte.
Pilar hat mir von Ihnen erzählt. Und von Ihren Oliven.
Die arme Pilar, sagte sie. Möge sie in Frieden ruhen. Eine schöne Frau. Und eine gute Frau. Sie mochte uns.
Ich weiß, sagte Greta.
Und Sie sind jetzt in dem Haus?, fragte Filomena.
Vorgestern bin ich angekommen.
Ja, der Sturm war schlimm. Sie werden viel zu tun haben. Hier. Die Oliven. Alles kaputt. So ein Jammer. Das, was da noch hängt, zeigte sie auf die Bäume, bringt auch nichts mehr.
Und die vom Boden kann man nicht mehr verwenden?, fragte Greta.
Nein, erwiderte Filomena. Die taugen nichts mehr. Die sind schon in die Geschichte eingegangen. So ist das Leben. Und sie lachte Greta verschmitzt an.
Und Sie, fragte Filomena, bleiben Sie lange?
Ich weiß es noch nicht. Kommen Sie doch einfach mal vorbei.
Mal sehen. Erst einmal muß ich meinen Enkel besuchen. Pipo. Er hat Geburtstag. Da drüben! Sie streckte den Zeigefinger in Richtung Süden. Da drüben lebt er. Achtzig Kilometer sind das. Die tun weh, sagte sie, beugte sich schwer und hob einen abgerissenen Olivenzweig vom Boden.
Grüße an Pipo, sagte Greta und ging weiter.
Ade, sagte Filomena. Und viel Glück.

Greta blickte in den Himmel.

Ein Schwarm kreischender Möwen kam von der Seeseite her und zog über den Olivenhain.
Die holen sich ihr Frühstück, rief Filomena ihr zu. An der Müllkippe. Wenn der Wind sich dreht, riechen Sie den Gestank bis hier...Eine Schande ist das ....
Ihre Stimmen verloren sich im Wind.

Greta ging zurück zum Haus.
Ich bin nicht hier, weil ich gegen Müllkippen demonstrieren will, dachte sie wütend.
Ich brauche auch keine kleine heile Welt. Aber es ist vorbei. Aus. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Mich auf nichts mehr einlassen. Wind weg. Farben weg. Alles weg.
Durch die stinkende Müllkippe fühlte sie sich so stark bedroht, daß allein schon das Bild der Müllkippe ausreichte, um alles in ihr zu ersticken und sie fühlte, wie sie vermoderte.
Ich spüre das Leben, dachte sie, wie es sich krümmt vor Scham. Keine Sorge. Wir entsorgen. Das Leben. Und uns.
Sie erinnerte sich an ihre Zeit vor den gelben Säcken. Vor dem Grünen Punkt. Vor dem Fernsehen.
Wenn sie sich richtig entsann, musste man sich nicht unaufhörlich für oder gegen etwas entscheiden. Die Ereignisse, die ein Ja oder Nein verlangten, waren dünn gesät, aber sie schienen von Bedeutung zu sein, denn sie gaben dem Leben immer eine ganz neue Richtung.
Das ist vielleicht mein Handicap, dachte sie.
Im Haus machte sie den Kamin an und setzte sich vor das Feuer.
Einer der Briefe an Pilar beschäftigte sie.
Sie stand auf und holte ihn.

Liebe Frau Montalbán, las sie, seit vielen Jahren vermeide ich es, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Ich gehe Ihnen sozusagen aus dem Weg. Ich besuche Ihre Ausstellungen nicht mehr und lese nicht eine Zeile von dem, was über Sie geschrieben wird. Jedem Gespräch, dessen Thema Sie sind, entziehe ich mich. Ich stelle mich dumm. Stumm. Taub.
All das tue ich, weil ich vor vielen Jahren in Berlin zufällig in eine Ausstellung kam und dort Ihre Skulptur ´Bewegung` sah. Ich kann Ihnen nicht erklären, dass mir Angst wurde.
Angst, Ihnen zu begegnen. Angst, weil ich Liebe empfinde.
Noch immer...

Auch am nächsten und am darauffolgenden Abend saß Greta noch immer vor dem Kamin. Um sie verstreut Aufzeichnungen, Skizzen, Bilder, Briefe. Sie hatte sich nur vom Fleck gerührt, um etwas zu suchen, nachzuschlagen und Kaffee oder Tee zu kochen.
Und sie hatte telefoniert. Immer dieselbe Nummer.
Hatte unzählige Nachrichten hinterlassen, man möge sie zurückrufen. Aber das Telefon klingelte nicht.
Sie wartete zwei weitere Tage. Dann fuhr sie ab.
Sie rief ein Taxi, nahm dann den Zug und dann einen Flug.
Ich kann Ihnen einen Flug über München anbieten, hatte die Frau am Ticketschalter gesagt. Allerdings nur noch in der ersten Klasse.
In München angekommen, versuchte Greta wiederum mehrmals vergeblich zu telefonieren.
This is our final call for allpassengers booked to Hamburg. Please proceed to gate...
Atemlos kam sie im Flugzeug an.
Die Stewardess führte sie zu ihrem Platz.
Greta zog ihren Mantel aus, sah sich neugierig um und da stand er nun, ihr papermoon und traf sie mitten ins Herz
Hallo, sagte er.
Hallo, sagte sie.
Es klang wie ein liebevolles Willkommen.
Kann ich Ihnen behilflich sein? hörte sie die Stimme der Stewardess.
Tonlos schüttelte sie den Kopf.
Der Mantel glitt zu Boden.
Dunkelrot quoll das Blut aus ihrem Herzen.
Er kam auf sie zu.
Entschuldigen Sie, wie war doch Ihr Name?, fragte er und bot ihr die Hand zum Gruß.
Schweinebacke, sagte sie und fühlte..
Wie bitte?, fragte er.
Greta, sagte sie.
Schweine..?, hielt er inne und war ganz Ohr. Greta konnte ihn riechen.
Ja, Backe, sagte sie und ach du lieber Gott, ist doch ganz einfach, und sie fühlte ihre Hand in seiner...
Bitte, setzen Sie sich doch, bot sie ihm an, als wäre es nichts als eine Frage der Höflichkeit. Nicht gehen, alles, nur nicht gehen, dachte sie, und sie war fest entschlossen, ihm nichts zu verraten, bis nicht auch er eine Chance gehabt hätte, sie zu vermissen oder zu vergessen. Dabei hätte sie ihn am liebsten geküsst.
Und wie sagten Sie, ist Ihr Name?, fragte sie während er sich setzte.
Er lachte.
Für die meisten bin ich Schimanski.

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