Texte aus dem Bilderbuch

Briefe und Erzählungen

Amalie Wissing   ab 1999

Inhaltsverzeichnis

Märchen, Briefe und Erzählungen

Apo und Theken

Painting ©reated by Gregg Simpson

Noch schlief Theken tief und fest.
Im Garten ihres Palastes zwitscherten die ersten Vögel. Es war ein wildes Durcheinander.
...Schöner Tag! Ja-ja-ja-ja-ja! Wohin fliegen wir heute? Geträumt geträumt! Weiß nicht! Weiß nicht!...
Vögel nehmen ihre Aufgabe ernst. Sie zwitschern den Morgen herbei und sind von allen Frühaufstehern immer noch die fröhlichsten.
...Habt ihr Theken gesehen? Habt ihr Theken gesehen?.. schlug die Amsel aufgeregt dazwischen.
Theken räkelte sich in ihren Kissen und wachte auf. Sie war die Enkelin eines Heilkundigen. Der war sehr berühmt, obwohl er schon gestorben war.
Menschen, die sein großes Wissen und seine Güte in Anspruch genommen hatten, hörte man noch immer sagen: „Ob mich sein gütiges Lächeln geheilt hat? War es die Wärme, die ich spürte? Oder waren es die Kräuter? Wer weiß das schon?“
Aber Theken war nicht nur die Enkelin ihres berühmten Großvaters. Sie war ein Mädchen wie du oder deine Schwester, mit leuchtend roten Haaren und türkisblauen Augen. Und sie lebte wie eine Prinzessin in einem Palast mit einer goldenen Kuppel.
Nun, es gibt viele Paläste. Einige davon schmückt eine goldene Kuppel, manche mögen auf einem Hügel oder einer Anhöhe liegen, dass man sie schon von Weitem sieht, aber keiner dieser Paläste hatte eine Kuppel wie Thekens Palast.
Kam nämlich ein Fremder des Weges und schaute den Hügel hinauf, sah er keinen Palast. Er sah die strahlende Sonne und den blauen Himmel. Begab sich der Fremde aber auf eine Anhöhe, so schimmerte der Palast wie ein kühler Bergsee.
Wer in solch einem Palast lebt, braucht kein unnützes Mauerwerk, und muss es nicht eine Freude sein, nach Belieben ein und aus zu gehen?
Theken wachte auf und hörte die Vögel rufen.
„Geduld, Geduld!“ rief Theken den Vögeln zu, deren Sprache sie verstand. Dann sprang sie hurtig auf und lief durch den Garten hinab zu den Wiesen am Bach.
„Erdrauch und Gundelrebe blühen“, freute sie sich und wiegte den Kopf, als wollte sie etwas sagen, denn ihr war, als sähe sie den Großvater an ihrer Seite.
„Ach, könntest du mich begleiten,“ dachte sie, „ich möchte noch so viel von dir lernen!“
Solange der Großvater gelebt hatte, war sie nicht von seiner Seite gewichen. Er hatte sie die Namen aller Bäume und Sträucher im Hain gelehrt, ihr die Fährten des Wildes gelesen und sie mitgenommen, wann immer er Blüten, Wurzeln und Kräuter sammelte, die in einem Zimmer des Palastes trocknen mussten. Vielerlei Gefäß und Gerätschaft hatte er ihr zur Hand gegeben, die sie fein und ordentlich bewahrte. Und so aufmerksam hatte sie zugeschaut, wenn er die Rezepturen zusammenstellte, dass sie nun selber mit geschickter Hand die heilenden Tees, Tinkturen und wohltuenden Elixiere zubereitete.
In Gedanken versunken folgte Theken dem Bachlauf, der zu einer Bucht aus Grotten und Höhlen führte. Von dort gelangte man an einen geschützten Strand. Und diesen Strand, so hieß es, durften nur Mädchen betreten. Und das auch nur ein einziges Mal im Jahr, nämlich zum Fest und zu Ehren der der Mondgöttin, und das fiel immer in den Sommer.
Du siehst, Regeln gibt es überall. Man muss nicht lange schwitzen, um das zu verstehen. Ich will nicht leugnen, dass es solche und solche Regeln gibt. Manche folgen einer Einsicht, aber ich vermute gar, dass manches Mal Bequemlichkeit dahinter steckt. Und das heraus zu finden, ist mitunter kein leichtes.
Du fragst dich sicherlich, was sagen die Burschen dazu und was machen sie an einem Tag, der allein den Mädchen gehört, die sich bis in den hellen Morgen vergnügen?
Apo war einer dieser Burschen.
Er drückte es so aus:„Das Fest der Mondgöttin ist mir wie ein Samum.“
Wisse, dass in Kleinasien der Samum ein heißer Wüstenwind ist.
Na ja, in Kleinasien hat man damals kaum gesagt, das geht mir am ….
Aber du verstehst, was Apo sagt und wie er tief im Herzen fühlt, oder?
Nun, die anderen Burschen hatten ihm zugestimmt, denn er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Beifällig hatten sie genickt, mit den Füßen gescharrt wie es das Federvieh tut und hatten völlig vergessen, dass niemand sie um ihre Meinung gebeten hatte.
Also gut. An jenem gleichen Morgen hatte Apo entschieden: „Ich will zur Bucht gehen und nach meinem Boot schauen“, und hatte sich auf den Weg gemacht.
War das Boot nun ein Vorwand gewesen oder nicht, er konnte alleine sein und seinen Gedanken nachhängen.
Sorgfältig vertäute er das Boot an einem Felsen.
„Das ist also der Sommer“, dachte er und wünschte sich mit dem Boot aufs Meer und dachte an die Mädchen am Strand.
Theken, die der Weg - oder war es das Schicksal - in dieselbe Bucht geführt hatte, sah ihn verträumt auf einem Felsen stehen.
Das kommt gut, dachte sie und schlich sich an ihn heran wie eine Schlange.
Plötzlich schrie sie:„ Schlange, Apo!“
Theken hatten Schlangen nie geängstigt. Aber sie wusste um Apos Angst.
Er schreckte zusammen und sprang wie ein Käfer hoch und weit und hielt im Sprung die Knie fest umschlungen und tauchte Knall auf Fall in die tosende Gischt.
Theken lachte laut. Ganz im Gegensatz zu Apo, der sich zum Gespött eines Mädchens gemacht hatte. Dann kam er auch noch ins Stottern und spie in kleinen Bögen Wasser, wie es sonst wohl Brunnen tun und seine Augen blitzten.
Thekens Augen blitzten zurück.
War dieses Blitzen der Grund, warum er sich am Morgen des Festtages zu den anderen Burschen gesellte, die zufällig nahe der Bucht herumlümmelten und sich die Augen rieben, als wären sie kurzsichtig?
Nun, Theken mit dem roten Haar war nicht zu übersehen. Apo war von ihrer wilden Schönheit gefesselt und erschöpft vom Schauen fiel er in einen tiefen Schlaf.
Schlafen macht träumen und träumen macht neugierig, und Neugier macht hoffen und Hoffnung prasselt wie ein Regen auf uns. Schwimmen nicht auch den Klügsten die Felle davon, wenn ein schönes Mädchen oder ein schöner Jüngling im Spiel sind?
Als Apo aus seinen Träumen erwachte, flüsterte und kicherte es hell von der Bucht zu ihm herüber.
Licht schlingerte der Mond auf dem Wasser und über einem funkelnden Netz aus Sternen wölbte sich die Nacht.
„Sie ist voller Geheimnis“, dachte er und unaufhaltsam zog ihn das Wasser und zog ihn hinein wie einen großen silbernen Fisch.
Am Strand schnatterten und gackerten die Mädchen, sie tanzten und lachten. Auch über die Jungen in der Bucht.
Theken horchte auf.
Ein leises Raunen zog sie ans Wasser und zog sie hinein wie einen silbernen Fisch.
Was dann geschah?
Du kannst es dir wünschen. So etwas geschieht nicht nur in Märchen.
Also Apo und Theken hatten Kinder? Sicher doch.
Und die hatten wieder Kinder. Tausend mal tausend Kinder, stell dir vor. Woher ich das weiß?
Weil ich in einem bestimmten Wappen eine Schale entdeckt habe. Und die erinnert an den Großvater.
Ich bin mir sicher, du hast sie auch schon entdeckt. Genau. Eine Schlange sieht man auch darin. Ist doch klar, warum, oder?
Du willst noch wissen, warum Apo und Theken unzertrennlich geblieben sind?
Das wird wohl ein Geheimnis bleiben.
Vielleicht waren sie einander längst versprochen, lange noch bevor die Sonne aufging und sie Hand in Hand den Strand entlang schlenderten.
Wer weiß?



















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Hinter jedem Satz

Digital Painting ©reated by Anikó Hencz

Hinter jedem Satz steht eine Frage...
Stop! Halt! Aus!
Die Nächste!
Ruhe bitte!

Hinter jedem Bild steht eine Frage...
Ich gebe zu, ich bin peinlich berührt, wenn meine Gedanken ins Rampenlicht drängen, sich selbstverliebt drehen und spiegeln, mal hier, mal dort ein Gewand überstreifen, um es nach wenigen Schritten mit der gleichen Leichtigkeit wieder abzustreifen und fallen zu lassen. Aber wohin auch mit all den Stoffen, dem heimlichen Rascheln, den seufzenden Farben und milchigen Sommern, Bügel an Bügel, Wort an Wort.

Es ist Freitag. Kein Dreizehnter. Der Einunddreißigste. Ende eines Sommers, der keiner war. Ich stehe auf. Schaue auf die Uhr. Im Flur zeigt sie fünfzehn dreißig. Das muss die Mitteleuropäische Zeit sein. Aber ich muss nicht in Mitteleuropa sein. Mein Flur vielleicht. Das Zitronengelb an der Wand. Ja oder nein?

Hinter jedem Satz steht eine Frage.
Warum dieser Satz? Hätte ich nicht Bedeutenderes denken oder sagen können? Etwas, das sogar mich revolutioniert? Etwas, das kickt? Mich aus dem schlammgrauen Alltag heraus katapultiert in jene Höhen der Erkenntnis, die meine in die Jahre gekommene Verzweiflung noch immer hinter den wabernden Nebeln ferner Gipfel verborgen wähnt.

Fünfzehn Uhr dreißig. Und Freitag. Ist das von Bedeutung? Für mich nicht.
Jedes Wort braucht seinen Mantel. Jedes Tier seinen Namen, jede Liebe ihre Ohnmacht, jeder Pickel sein Gesicht. Auch um fünfzehn Uhr dreißig. Aber mir kann das egal sein. Es muss mir egal sein. Überhaupt muss mir viel mehr egal sein. Unbedacht bleiben. Mehr. Mehr als mehr. Legal. Leal. Egal!


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Die Kaiserliche Größenfestellerin

Photo ©reated Helena Afonso

Am Hofe des Kaisers, der die tausend Gemächer und die neunundneunzig Minister des altehrwürdigen Kaiserlichen Großvaters, dem Einzigen Meister der feinen Rede und des ausgesuchten Geschmacks geerbt hatte, lebte einst die Kaiserliche Größenfeststellerin Lin Sin Fu.
Niemand bei Hofe hätte auch nur daran gedacht, das Jahr ihrer Geburt zu schätzen. Und niemand wagte, bei den abendlichen Schwätzchen im Kaiserlichen Schatten des Kaiserlichen Bambushains neben dem Kaiserlichen Brunnen auch nur ihren Namen zu erwähnen. Wo immer man ihr im Palast begegnete, geschah dieses still und voller Ehrerbietung. Und hätte das Kaiserliche Hündchen neben Lin Sin Fu auch nur einen Funken Kaiserlichen Verstandes gehabt, hätte es den Gürtel der Tonlosigkeit um seine Herrin bemerkt und sich vielleicht gefragt, warum niemand sich seiner Herrin näherte, geschweige denn mit ihr sprach oder je das Wort an sie gerichtet hatte, es sei denn, sie deutete ihr Einverständis mittels des Kaiserlichen Rituals der Aufforderung an.
Aber selbst dann war man in Rede und Gebaren gebunden. Ja, das Kaiserliche Ritual verlangte Zeit, die nicht jeder hatte und die Gesten des Kaiserlichen Hofes wollten beherrscht sein und nach dem Gesetz der Harmonie und Vollkommenheit perfekt ausgeführt werden. Nichts am Kaiserlichen Hofe war jener Schmach vergleichbar, die ein fehlerhaft ausgeführtes Ritual unweigerlich nach sich zog.
Allein das Wort fehlerhaft wurde emsig vermieden, wie manch anderes Wort auch und wenn man Worte vor das Kaiserliche Gericht hätte zerren können, wären sie zweifelsohne zum Tode durch das Schwert verurteilt worden, aber da es nicht üblich war, Worte vor Gericht zu bringen, denn wer wollte schon ein Wort verteidigen, brachte es doch einem Kaiserlichen Beamten keinen einzigen Kaiserlichen Yen in die Tasche und wusste ein Wort doch außer sich selbst kein anderes zu benennen, so hatte es schon lange keinen Daumen, den es zuerst auf des Kaiserliche Tintenkissen drücken und dann unter das Kaiserliche Dokument auf dem Kaiserlichen Papier setzen konnte.
Also wundert es nicht, dass Worte mit dem Bann belegt wurden. Und jeder, der sich ihrer annahm, sie aussprach oder nur versehentlich andeutete, wurde als Verräter des Kaiserlichen Rituals aus der Gemeinschaft der Sprechenden verbannt und verbrachte den Rest seines Lebens in tiefem Schweigen.
Sein Gegenüber erhöhte man, indem man sich selbst erniedrigte. Auf diese Weise Achtung und Lob auszudrücken, konnte bis zu zwanzig Verbeugungen, elf Kniefälle und zwei mal drei Schritte rückwärts verlangen, wenn man sich, wie hier beschrieben, zu Ehren eines der Kaiserlichen Beamten der neunundneunzig Kaiserlichen Minister erniedrigte.
Das Gesicht unaufhörlich zu Boden gewandt, ohne je den Blick zu heben, stellte sich manchem Bittsteller von den Ritualen ermüdet die Frage, ob die Kaiserlichen Beamten vielleicht andere oder möglicherweise überhaupt keine Augen haben könnten. Aber so pfeilschnell der Gedanke sie traf, so hastig mussten sie ihn fliegen lassen.
Lin Sin Fus flinken Augen wiederum blieb nichts verborgen.
- Schau dir dieses Bild an. Ja, das ist sie. Das ist Lin Sin Fu, deine Großmutter. Die Kaiserliche Größenfeststellerin. Du bist erstaunt, weil du sie nie als junge Frau gesehen hast. Ja, sie lächelt. Ein wunderschönes Lächeln, nicht wahr? Ich sehe, du lächelst auch. Du staunst und bist neugierig von mir zu hören, welcher Zauber sich dahinter verbergen mag, dass deine junge Großmutterfrau dich nach unendlichen Monden anlächelt und dir ihr Lächeln schenkt? Das ist ein großes Geheimnis, das kannst du mir glauben. Und dieses Geheimnis hat bis zum Sonnenaufgang kein Mann je erlauscht. Sollte ich irren, belehre mich eines besseren. Aber sag mir, wo immer Mädchen aufgeregt ihre Köpfe zusammenstecken, tuscheln und giggeln, verstummen sie nicht augenblicklich, wenn ein Junge sich ihnen nähert? Ist das nicht Beweis genug?
Dein kleines Lächeln erweist mir die Ehre der Nachsicht, denn wie kann ich nur angenommen haben, du gingest mit blinden Augen durch die Welt, wo du doch, wie ich sehe, recht hübsche Augen hast, mit denen du die Welt erkundest.
Nun aber genug der Schwätzerei, der Tee in der Schale ist schon kalt geworden. Ich höre, mein Tagewerk ruft. Du magst deinen Gedanken nachhängen oder mir folgen.
Ich verehre meine Tante Mae Li. Leise und bestimmt geht sie ihren eigenen Weg. Und ich habe das Gefühl, falls ich als Neunjährige schon so sprechen darf, sie stellt die Welt auf den Kopf. Vielleicht ist es bei Ihnen erlaubt, Kindern vor dem Schlafen gehen Märchen und Geschichten zu erzählen. Tante Mae Li, wie Sie mit eigenen Ohren gehört haben, erzählt ihre Geschichten am liebsten in der Früh. Und das ist wie ein Sonnenstrahl oder eine Schale duftender Reis...
(to be continued..)

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Im Frühjahr (in Arbeit)

Foto ©reated by Khaled Hasan

Im Frühjahr, wenn die Sonne wie eine Katze ums Haus streicht und mit einem...

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You always live twice (in Arbeit)

Der Zeuge hatte noch den Geschmack des New Yorker Morgenkaffees auf der Zunge, als er im Kugelhagel...

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Der Boß (in Arbeit)

In dem schäbigen Hotel hinter dem Bahnhof bestelle ich wie üblich einen doppelten Café latte...

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Gastfreundschaft

Painting ©reated by Knut Kargel

Liebe Lisa

du hast mich um ein paar Gedanken zur Gastfreundschaft gebeten.
Kurz und schnell antworte ich Dir.
Mein Blick ist rückwärts gewandt.

Lass Deinen in die Zukunft schweifen!


Wenn wir Gastfreundschaft abtasten, erfahren wir sehr bald, was sich hinter diesem Wort verbirgt.
Es bedarf eines Gastes, der Freund spielt eine Rolle und es ist von Schaft die Rede. Nun, jede Schaft ist gewachsen, hat mit Tradition zu tun, was wir an bestimmten Ritualen erkennen können. Ganz gleich, zunächst einmal, ob es sich dabei um eine Freundschaft oder eine Feindschaft handelt.
In der griechischen Welt ist von Philemon und Baucis die Rede, einem betagten Ehepaar, das eines Tages einen Gott als Gast in seinem Haus aufnahm, der sich nach Sitte der Götter verkleidet hatte und wegen seines schlechten Outfits, wie wir heute sagen würden, von den anderen Menschen abgewiesen wurde.
Philemon und Baucis schämten sich ihrer Armut und verbargen sie tapfer vor dem Gast, den sie auf´s Beste bewirteten.
Der Gott belohnte die Beiden, indem er ihnen einen Wunsch freistellte.
Sie erbaten sich, dass jeder von ihnen nach dem Tod ein Baum sein möge. Und der Gott erfüllte ihnen den Wunsch. Sie wurden zu einer Lind und zu einer Eiche am Eingang seines Tempels, wo sie nun stehen und über ihn wachen.
Sagen, Legenden und Märchen, ja, selbst die Bibel, der Talmud und der Koran erzählen von Begegnungen, die so oder ähnlich abgelaufen sind. Damit setzen diese Erzählungen Maßstäbe und leisten einen gesellschaftlich wichtigen, erzieherischen Beitrag zur Wahrung der Tradition im Umgang mit Fremden.
Muster dieser Begegnungen sind vielfältig.
Unbekannte treffen aufeinander und der Mut, die Warmherzigkeit oder der Glaube eines Menschen oder Gastgebers werden auf die Probe gestellt und oft hoch belohnt.
Märchen erzählen von Verkleideten, Neugierigen und Listigen, die sich Zugang zu Hütten und Höfen verschaffen, weil sie dort ein sehr persönliches Interesse verfolgen.
Und es wird von Toren (Dummen) gesprochen, denen ein dummer Zufall oder eine läppische Verwechslung den Zutritt in ein fremdes Haus ermöglicht.
Zurück zum Thema.
Der Gast. Gast ist immer jemand, der kein Wohnrecht hat. Er ist ein Aufgenommener, der in einer persönlich misslichen Lage ist, arm, krank, verlassen, ohne ein eigenes Dach über dem Kopf. Und Gast ist auch ein Eingeladener.
Man bietet ihm eine Mahlzeit und beherbergt ihn. Mit dem Eintreten in das Haus gewährt man ihm Schutz. Er wird zum Schutzbefohlenen.
Das gemeinsame Mahl mit dem Brot und dem Salz als Ritual ist einerseits das Angebot des Gastgebers, ehrlich zu teilen, worin sich Achtung dem Fremden gegenüber ausdrückt, und andererseits besiegelt es seitens des Gastes die Wahrung der Achtung des fremden Gastgebers, ist also eine Art Pakt, die Gastfreundschaft auf keiner Seite zu missbrauchen.
Mit Hilfe dieses Rituals bekunden beide Seiten ihren Willen zum friedlichen Umgang miteinander und stellen aktiv eine Situation her, aus der sie durch die einander bindende Verpflichtung zu ebenbürtigen Partnern werden. Eine durchaus seltene Begebenheit!
Das Vorgehen ist klug und dem Menschen angemessen.
Unser tierisches Erbe, unser angeborenes Aggressionspotential werden beschwichtigt, entladen und in ein sozial verträgliches Netz umgeleitet.
Der Freund. Freund ist jemand, auf den ich mich verlassen kann. Jemand, der mir bekannt ist, jemand, mit dem ich eine Geschichte teile.
Der erste Schritt ist getan der Fuß über die Schwelle gesetzt.
Der Gastgeber fragt den Gast nach der Reise, seinem Befinden, seiner Familie.
Es entwickelt sich ein Gespräch, das Unbekannte wird bekannt. Im doppelten Sinne. Der Unbekannte wird einschätzbar, Schritt um Schritt lernt man ihn schätzen.
Der Gast erzählt Geschichten.
Geschichten sind das Geschenk der Mittellosen und Wanderer mit leichtem Gepäck. Man teilt sich mit und nimmt Anteil, hat Teil am Geschehen, ist Teil des Geschehens. Ist integriert, würde man heute sagen. Darin liegt die Magie der gemeinsamen Freude und Trauer. Selbst wenn sie im fiktiven Raum der Erzählung stattfindet.
Und so wird jeder des anderen Freund.
Die Schaft. Diese Schaft ist vielleicht kurz, wie eine Liebschaft, verlässlich, wie eine Kameradschaft und herzlich, wie eine Freundschaft. Aber sie ist verpflichtend und beständig, ein Grundpfeiler jeder Gemeinschaft.
Im Lauf der Jahre wandeln sich die Zeichen, derer wir uns bedienen.
Aus Brot und Salz sind längst Mon Cherie und Cappucchino geworden. Und Männer bieten dem Ehrengast nicht mehr ihre Frauen für die Nacht.
Gästetoilette und das Gästetuch bezeugen Status. Auf jeden Fall kalkulieren sie ein zufälliges Ereignis ein. Man schützt sich vor Überraschungen und sucht sich seine Gäste aus. Vielleicht sogar passend zum Design.
In Russland sagt man noch heute: Fühlen Sie sich wie zu Hause, aber vergessen Sie nicht, dass sie eingeladen sind...
In ihrem neuen Buch „Ich liebe Götz George“ lässt die Autorin Amalie Wissing die Protagonistin in der letzten Erzählung sagen:„Ich behandelte meine Wünsche wie ungebetene Gäste“
Ich wünsche uns allen, dass wir das Wünschen nicht verlernen und uns immer auch gegenseitig daran erinnern, dass wir nur Gäste auf diesem Planeten sind.


Liebe Lisa, sei uns bald ein willkommener Gast, gerne mit Freund oder Freundin und sei herzlichst umarmt von Moira!

Dein Carlos

in Mexiko City, am 28.10.1999

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Briefe an Frau D.

Painting ©reated by Humberto de Jesús Viñas García

Santiago de Chile, den....


Liebe Frau ... ,


zu Ihrer Berufung und neuen Aufgabe als Leiterin meiner alten Schule will ich Ihnen von Herzen Glück wünschen.

Sollte die Entscheidung, einer Frau die Führung und Lenkung der Geschicke im …. zu übertragen, von den verantwortlichen Gremien nicht aufgrund von Klugheit sondern eher unter der Ägidie des Zeitdrucks gefällt worden sein, verberge ich keinesfalls meine Freude und Erleichterung darüber, dass nach langen Jahren männlich geprägter Welt und Sichtigkeit nun auch das ... ein Ort ist, für dessen bunt gefächerte und Generationen übergreifende Gemeinschaft weibliche Töne anklingen.

Neugierig wie ich bin, komme ich gerne zum diesjährigen Altschülertreffen.
Ein ehemaliger Mitschüler und langjähriger Freund hat seine Eindrücke vom letzten Jahr in einem Brief festgehalten, der mich heute erreicht hat.

Mit seinem Einverständnis lege ich diesen Brief bei und es wäre in unser Beider Sinne, wenn Sie ihn dem Kollegium vorlesen möchten.

Auf Ihre Antwort freuen wir uns.
Ihr
Otto von t´Huus
(Schüler von 1934 bis 1941)





Kolumbien, im Oktober ….

Lieber Otto,

seit einer Woche in Kolumbien zurück hatte ich Zeit, meine Eindrücke aus Europa und besonders dem … unter dem hiesigem Licht zu reflektieren.
Ich schreibe Dir, weil ich bewegt und auch in Sorge bin.

Wo sind die alten Zeiten hin? Wo sind sie hingekommen?
Noch heute spüre ich die Inbrunst , mit der wir uns in die Gemeinschaft einfügten. Wir haben alles gegeben, um ans Ziel zu kommen.

Anfangs fiel es mir schwer, mich am … zurecht zu finden.
Erinnerst Du Dich daran, wie beschämt ich war, als Du mich weinend am Hexentanzplatz antrafst?
Gott sei Dank nahm mich der unerschütterliche „Xerxes“ damals unter seine Fittiche.
Welch ein Pädagoge! Welch ein Vorbild! Unnachgiebig hat der seine Rabauken gebändigt und gezähmt. Ich hatte verdammten Respekt vor ihm und wusste, wenn ich auf ihn hörte, war ich praktisch unverwundbar.
Hätte man uns nicht zur rechten Zeit die Flügel gestutzt, welche Früchte hätten wir getragen? Was wäre aus uns und der Welt geworden? Hat man uns nicht alle auf ein Gleis gesetzt, damit wir das Ziel erreichen?

Als ich ins ... kam, war ich schockiert. So vieles hat sich geändert.
Nein, das war nicht mehr mein …. Es schien mir eher gewöhnlich wie überall auf der Welt.
Die Menschen waren mir fremd geworden, gestört möchte ich fast sagen.
Sie simsen und zappen sich durch den Tag, reihen X-Beliebiges aneinander und mir stellen sich bizarre Zusammenhänge dar, die in ihrer Unvorhersehbarkeit jedes pädagogische Konzept a priori zunichte machen.
Haben wir uns früher im Einhalten von Regeln geübt, scheinen sie heute wie gemacht, umgangen und übertreten zu werden.
Abgesehen davon fehlt es an Pädagogen mit Charisma.
Kein Blitz durchzuckt den Himmel mehr, kein Donner grollt. Heute ist Gesprächsbreitschaft das Signal. Überall, zu jeder Stunde. Es wimmelt von „Persönlichen Gesprächen“, den Pgs.
Mich erinnert das an give-aways. Bedeutungsloses, handelsübliches Falschgeld, mit dem Freiraum erkauft wird.
Manches ähnelt wahrlich den Beschwörungsritualen unserer Geistheiler.
Nur sind die Patienten hier dort eher Kunden im Park.
Wer zahlt, bestimmt, wie und wo zu befrieden ist.
Ein kleines Treffen an der Cocktailbar hatte man uns arrangiert.
Jawohl, es spricht sich leichter mit dem Alk im Nacken, aber um Himmels Willen nicht im Pulk. Und Brut mit Label ist nun wirklich nicht mein Ding.
Ein Wirrwarr von Gelacktem, Piercings und Gefönten, Jugendamt und Stipendiaten, Iberos, Afros, blauem Blut.
Da sucht man den Schuldigen vergeblich.
Was soll aus meinem geliebten... bloss werden?
Einigkeit und Recht und Freiheit müssen doch verbindliche Grundwerte bleiben.
Wie aber, wenn schon dem Nachbarn der Ruf nach Égalitée, Libertée und Fraternitée besser gefällt?
Die Tradition, der ich mich verpflichtet fühle, kann keine Blüten tragen, wenn das ständige Kommen und Gehen von Schülern und Lehrern im Geäst sägt.

Ich vertraue Dir eine gewisse Trauer an und frage mich, ob unsere Schuld darin besteht, dass wir nichts als älter geworden sind.

Herzlichst
Dein KM.

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Un bel di

Painting ©reated by Pejman Tadayon

“Cäcilie, darf ich einen Augenblick unterbrechen?" fragt Renate, "mein Kaffee steht in der Küche."
"Entschuldige. Wenn du willst, telefonieren wir später", schlägt Cäcilie vor.
"Nein, nein. Das geht schon. Ganz kurz nur. - So, da bin ich wieder. Sprich weiter. Ich höre dir zu."
"Ich bin eifersüchtig. Absolut eifersüchtig", hastet Cäcilie mit brennender Stimme weiter. "Bei ihm hat sich nichts verändert. Alles hat er behalten. Seine Freunde. Seinen sozialen Status. Und eine neue Liebe hat er auch." Sie räuspert sich. "Ich kann mich nicht so schnell umstellen. Auf eine neue Beziehung einlassen. Schon gar nicht auf eine neue Liebe." Sie räuspert sich. "Er macht weiter wie bisher. Und ich? Ich sitze da. Und?"
Das Telefon bleibt stumm.
Im Hintergrund dudelt baby, for all my life, I´m living to love you schmelzend in den Äther.
Vor ein paar Tagen erst hatte Ulrich mitsamt Werkzeugkasten pünktlich zur verabredeten Zeit an der nicht mehr gemeinsamen Wohnungstür geklingelt, um Cäciliens Wunsch gemäß eine alte Gardinenstange im Schlafzimmer ab zu schrauben. Im Flur standen sie einander hilflos gegenüber. Cäcilie schlug vor, sie sollten sich noch eine Chance geben, sich wieder näher kommen.
Als sie ihn ansieht, trifft es sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Er gibt auf. Leistet keinen Widerstand mehr.
Mit der camara lenta wird sie Zeugin. Mit einem Schlag versackt all seine je gekannte Energie. Wird unversöhnlich, unaufhaltsam Masse, die seinen Körper stopft und prall aus allen Poren schwitzt. Unwohl errötend quillt es aus ihm heraus, er habe sich bereits neu orientiert, und aus gestrecktem Galopp sieht sie sich gegen die rohe Wand ihrer vierundzwanzigjährigen Beziehung geschleudert, taumelt auf zittrigen Beinen, hört sich benommen flüstern. Geh, bitte geh! Ich will dich nicht mehr sehen. Nichts mehr von dir hören. Mindestens ein halbes Jahr, sagt ihr Sohn am Weihnachtsabend, sonst kommt man nicht zur Ruhe.
"Mir scheint, die Protagonisten sind von ihren Rollen mehr als überfordert", antwortet Renate ins Telefon. "Aber stell dir vor", wagt sie den Gedanken lachend weiter zu spinnen, "es gäbe eine Regieanweisung, und die sähe vor, dass ein Double deinen Part übernimmt. Und du entwickelst in Ruhe eine neue Persönlichkeit, die jenseits der Schmerzgrenzen liegt."
"Hört sich verdammt gut an. Stuntwoman gesucht für den Abspann einer Ehe."
"Eine gestandene Frau wäre für den dramatischen Abgesang zumindest qualifizierter als ein stummes Arschdouble."
"Und ich definiere mich fürderhin über den kontrollierten Abbau von Wasser, Luft und Mineralien..."
"Vorbei die Verirrungen der Gefühle. No indian summers anymore, meine Liebe."
"Blicklos im Vorübergehen. Gott, was für eine schreckliche Vorstellung!"
"Kein Vorspiel, kein Nachspiel!"
"Liebe vermodert und ist, was sie ist..."
"Hör auf! Das hört sich ja schrecklich an!"
"So ist es!"
"Wären Bilder denkbar, die dich zu einer anderen Haltung bewegen könnten?"
"Mein Sonnengeflecht meldet Funkstille. Ich bin nicht mehr so beherzt wie früher."
"Ist abgerutscht. Hat anderswo zu tun und wartet auf Wiederbelebung?"
"Ich habe zwei Karten für die Oper. Hast du Lust, mitzukommen?"
"Aufgebrezelt?"
"Wenn schon, denn schon. Ich hol dich ab."
Cäcilie und Renate kennen sich noch nicht lange. Aber wenn Frauen nicht mehr gemeinsam menstruieren, steht einer Freundschaft eigentlich nichts mehr im Wege. Sie ist einfach da und basiert auf eine Vertrautheit, der man bekannter Weise gerne bei Sandkastenfreudschaften nachweint.
Und gerade im Sandkasten lernen süße Mädchen, die vor ihnen liegende Zeit innigster Frauenfeindschaft möglichst ungeschoren zu überleben. Und Mädchen lernen schnell. Handeln großherzig. In Unschuld und Verbundenheit, auf alle Ewigkeit, Amen. Sie teilen sich mit. Und später vielleicht sogar die Liebhaber. Ein Zeichen ihrer Klugheit. Beiläufig werden sie anmerken, Müdigkeit setze außer Gefecht. Und Kraft ihres bezaubernden Lächens laufen weitere Fragen ins Leere.
Und das ist nur die Zeit der Kinderschuhe und erst eine Seite der Medaille, denkt Renate. Aus dem Ghettoblaster tönt wie bestellt I tried my best to keep her satisfied.
Seit Renates Sohn in einer anderen Stadt lebt, schaltet sie schon im Morgengrauen ihre Radios an. Sobald sie eine Sendung aufmerksam verfolgt, schallen die Sender synchron. Ansonsten überlässt sie die Programmwahl dem Zufall. Träumt sich von Elvis in der Küche zur Callas im Wohnzimmer, während Django Reinhardt im Bad wartet. Da sie nicht weiß, in welchem Traum sie sich bewegt, kann sie ihn nicht zu Ende träumen und nimmt, was ihr das Schicksal vor die Füße spielt. Manch Spiel durchschaut sie und gibt auf. Manches macht sie zur ungekrönten Queen der Improvisation. Und manchmal rufen ehedem Geliebte an. Sprechen, als seien sie erst gestern ein Paar gewesen, erinnern ihre Sanftheit, nehmen das vergilbte Bild ihres Körpers und wie aus der Pistole geschossen fragt sie nach Frau und Kind. O ja, hört sie die Selbstverliebten, immer wohlauf und glücklich, alle. Und jedes Wort trifft. Nein, nein, sagt sie, zu trauern gibt es nichts, und wischt die Tränen, und Gott sei Dank, sagt sie, hab ich dich nur geliebt und nicht geheiratet, denn no, you won´t be the reason I survive, diese Vorstellung verschlägt mir die Sprache.
Das Telefon klingelt.
"Mir fehlen die Worte!" Cäcilie ist schier außer sich. "Ich begreife es einfach nicht! Aber ich habe es geahnt. Ich habe es gewusst!"
Brunhilde heißt sie. Ein Furcht erregender Name! Warum nicht wenigstens Claudia. Eine Claudia könnte man sich vorstellen. Zur Not noch einschätzen. Man wüsste, mit wem man es zu tun hat. Aber Brunhilde überschreitet bei Weitem die Grenzen alles Zumutbaren. Woher sie kommt?
"Was meinst du?"
"Ich glaube, sie kommt aus dem Osten. Chemnitz, Karl-Marx-Stadt oder wie immer das heißen mag."
"Jetzt klauen die Weiber aus dem Osten uns auch noch die Männer! Zäh und zielstrebig. Ohne Rücksicht auf Verluste."
"Es geht schon seit Wochen. Ich habe es geahnt", schmeißt sie ihr Sechszylindergedächtnis an, "als ich den Brillantanhänger in seinem Zimmer gefunden habe. Für mich konnte der nicht sein", heult ihr Motor auf. "Hätte mir überhaupt nicht gefallen und bei unserem Juwelier hatte er ihn auch nicht gekauft", rast sie über ihren highway der Erinnerungen, "weil der es mir gesagt hätte und das hat er nicht, denn er hat mich immer angerufen, wenn Ulrich mir Schmuck schenken wollte und ich habe dann ausgesucht, was mir gefällt und für July oder Jenny wäre er auch nichts gewesen, war vom Design her einfach nicht jugendlich genug."
Plötzlich tritt sie voll in die Bremsen.
"Als ich ihn darauf ansprach, hat er nur herum genuschelt."
"Hättest dich für die Pretiose bedanken können", lacht Renate erleichtert. "Ihm ins Ohr geraunt, dass du Vergnügen hast an seinen Spielchen und gerne findest, was er versteckt."
"Dann wären vierundzwanzig Jahre Putzen, Kochen, Kinder aufziehen und ihm den Rücken frei halten auf jeden Fall ertragreicher gewesen", lacht Cäcilie bitter. "Er hat das absolut strategisch gemacht", sucht sie Wahrnehmung und Gedanken zu ordnen. „Absolut nach Plan! Hat sich die ersten Wochenenden nach seinem Auszug regelmäßig gemeldet und dann ganz langsam zurückgezogen. Und jetzt verbringt er Silvester mit ihr. Bei gemeinsamen Freunden in Mallorca!"
Sie holt tief Luft. "Ich habe sie angerufen und es war ihnen sichtbar unangenehm. Waren kurz angebunden und meinten", klingt sie ungeübt, "sie wollen sich nicht einmischen."
"Scheissfreunde!"
Cäciliens Stimme greift ins Leere.
"Sie sind angewiesen auf ihn. Machen gemeinsam Geschäfte."
"Doppelt Scheissfreunde!"
"Sie sagte nur", zögert Cäcilie, "Schicksalsschläge wollen uns etwas sagen und", tastet sie sich vorwärts, "ich müsste die Ursache also bei mir suchen."
"Meine Oma, und die war eine ganz tolle Frau, hat in solchen Fällen immer gesagt, tut mir leid, ich bin nur einmal geboren, aber es soll auch nicht wieder vorkommen."
Cäciliens Stimme atmet Kraft.
"Ich sage dir, ich habe es endlich begriffen. Ich laufe nicht mehr mit dem Kopf gegen die Wand. Ich habe nur noch eine riesige Wut." Erleichtert atmet sie durch. "Eine riesige Wut! Das hätte ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen können. Aber ich spüre mich wieder!"
"Happy birthday, Schönste!"
"Danke. Tut gut. Und von mir aus soll er ihr das hübsche kleine Haus, von dem ich immer geschwärmt habe, doch kaufen! Das ist mir jetzt auch völlig egal!"
Vedremo...

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Zuhause

Painting ©reated by Humberto de Jesús Viñas García

Als sie das schief in den Angeln hängende Törchen zum Schulpark hinter sich geschlossen hatte und die abgewetzten Stufen der Sandsteintreppe hinauf ging, knipste Mira ihre Taschenlampe an und folgte dem fahlblauen Lichtkegel, der im Rhythmus ihrer Schritte über den aufgeweichten Boden tanzte, stieg mit ihm über Schatten, abgerissene Zweige und morsche Äste, lief entlang einer entwurzelten Fichte, stapfte die regenschwere Wiese zum Haupthaus hinauf und erreichte die Anhöhe, wo unter dem roten Schotter ein kaum noch wahrnehmbarer Kreis aus handgrossen Sandsteinen den Ort der täglichen Mittagsversammlung markierte.

Sie sah die hell erleuchteten Fenster des Speisesaals und die Lichter der Schülerzimmer, die mal hier mal dort wie Kerzen an einem Baum verlöschten.
Gleich würden die jungen Menschen zum Frühstück eilen und die fröhlich ausgeschlafenen unter ihnen würden ihren Morgengruß hastend im Vorübergehen oder mit einer inne haltenden Geste erwidern.
Miras Arbeitsplatz, das Krankenrevier, lag fünf Minuten Fußweg vom Haupthaus am anderen Ende des Internatsgeländes. Erkrankte und verletzte Schüler suchten sie dort seit zwanzig Jahren auf, überließen ihr die wund geschlagenen Knie und geschwollenen Knöchel, die drückenden Bäuche und kratzenden Hälse zur Heilung, baten Jahr um Jahr, Sommers wie Winters drängelnd und dringend um Befreiung vom Sport, fragten um Rat oder schütteten ihr Herz aus.
Zu Beginn eines jeden neuen Schuljahres wusste sie, das Rad würde sich erneut drehen. Einige der neuen Schüler würden sich zur Genesung auf eigenen Wunsch oder ihre Empfehlung hin in eines der Krankenbetten zurückziehen, andere wiederum die vertrautere Umgebung des eigenen Zimmers vorziehen. Und einhellig würden sie das Essen an ihrem liebevoll gedeckten Tisch loben.
"Es wird wieder besser schmecken", hatte sie ihrer Freundin gegenüber lachend geäußert, "als das Essen im Speisesaal - obwohl es von der Küche geliefert wird - und die Tischgespräche werden lustig und entspannend sein."

Im Oberhaus, so wurde das Gebäude bald siebzig Jahre genannt, schob die Putzfrau ihren Wischeimer aus dem Klassenraum der 9 zwei.
"Na, haben Sie Ihren Schlüssel dabei?" fragte sie Mira, die in ihren Taschen kramte.
"Ja!" bedankte Mira sich und steckte den allmorgendlich ersten Schlüssel in sein Schloss und drehte links-rechts, darauf folgte der zum Sicherheitsschloss vom Medikamentenschrank einmal links-rechts, jetzt die beiden Karteikästen links-rechts und noch einmal dasselbe und schließlich die linken Schreibtischladen.
Sie warf den Schlüsselbund auf das Fensterbrett, zog ihre Jacke aus, öffnete alle Fenster, ordnete die frisch gelieferte Wäsche ein, leerte die Spülmaschine, schloss die Fenster, schaltete das Radio ein und überfolg den Tageskalender.

Sara suchte sie in der ersten Pause auf.
Blass und traurig stand die junge Spanierin mit leicht gebeugtem Oberörper vor ihr und hielt die gekreuzten Hände schützend vor den Bauch.
"Bitte, haben Sie eine Schmerztablette?" bat sie.
"Du hast starke Schmerzen?" fragte Mira.
"Ja, mir ist schlecht", antwortete Sara und die Hände über ihrem Bauch deuteten einen Kreis an.
"Ist das in Ordnung, wenn ich deine Temperatur überprüfe und mir deinen Bauch anschaue, bevor ich dir etwas gebe?" fragte Mira.
Sara stimmte zu. Mira erklärte ihr, was sie mit den einzelnen Handgriffen überprüfte und dass es aufgrund der Untersuchung keinen Anhalt zur Beunruhigung gab.
"Was hältst du davon, wenn du dich eine Stunde hinlegst?"schlug sie ihr vor. "Ich mache dir einen Kamillentee. Magst du den?"
"Manzanilla trinke ich zuhause auch", sagte sie.
"Dann ruhst du dich ein bisschen aus und wir warten ab, wie es dir danach geht?"
Mira zeigte Sara das Zimmer und das Bad und legte ihr noch eine zweite Decke über als sie ihr den Tee brachte.

"Was wirst du an diesem Wochenende machen?" fragte Mira.
"Ich fahre mit in das Skilager", antwortete Sara. "Können sie mir bitte die Kopie von meinem Versicherungsschein mitgeben? Mein Portemonnaie ist gestohlen worden und da waren meine Ausweispapiere drin. Ich habe schon mit meinen Eltern gesprochen und es dauert, bis ich meinen neuen Ausweis habe."
Trotz allen Nachdenkens hatte Sara keinen Anhaltspunkt dafür gefunden, wann und wo ihr Eigentum abhanden gekommen war.
"Ich kann mich nicht erinnern", sagte sie und sah für einen kurzen Augenblick so verloren aus wie ihr Portemonniae.
"Es macht dich traurig?"
Sie zuckte mit den Schultern.
"War neben den Ausweisen noch etwas in dem Portemonnaie?"
"Nicht viel. Zehn Euro. Aber das ist nicht so schlimm."
"Und was ist dann schlimm?" fragte Mira.
"Schlimm ist, dass ich mein Kreuz verloren habe. Meine Kette ist gerissen. Und mein Kreuz ist weg!" Beinahe unauffällig rollte sie sich während des Sprechens zusammen und zog die Decke höher. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

"Und dass du jetzt kein Kreuz hast, ist schlimm für dich?" fragte Mira.
Sara nickte und drückte das Gesicht ins Kissen.
"Dafür gibt es eine Lösung", sagte Mira und nestelte an der Kette unter ihrem Rollkragen. "Hier, nimm! Das Kreuz ist für dich. Und die Kette auch."
Noch während Mira weiter sprach, hatte Sara sich aufgesetzt und ihre schweren Haare hoch genommen. Als Mira ihr die Kette um den Hals legte, lächelte sie Mira ganz kurz an und versteckte die Kette eilig unter ihrem dicken Schal und kopfte mit der flachen Hand auf die Brust.
"Ich muss dir aber noch etwas dazu sagen" bat Mira und redete ohne Unterbrechung weiter. "Du kennst den Ausdruck Jeder muss sein Kreuz tragen? Meines trage ich weiter. Aber dieses Kreuz hier hat mich über viele Jahre bis in dieses Zimmer zu dir begleitet. Ich gebe es dir. Und jetzt trägst du es. Es ist deins."
Sara schaute Mira aufmerksam an als sie sich erhob und am geöffneten Fenster tief und langsam atmete.
"Möchtest du noch einen Tee?" fragte Mira.
"Danke, nein."
"Fühlst du dich besser?" fragte Mira.
Sara nickte.
"Gut. Dann lasse ich dich jetzt schlafen und du stehst auf, wann immer du willst. Ist das in Ordnung?"
"Ja", sagte Sara.
Leise fiel die Tür ins Schloss.

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Afghanistan ist überall

Painting ©reated by Nazim Mehmet

... Nun, was Minyia und ihr Leben betreffe, sagte der Alte mit dem zerfetzten Turban und räusperte sich scheinbar verlegen, aber doch auch so, als wolle er Zeit gewinnen, und sein Gegenüber aus dem Augenwinkel betrachtend verschränkte er die Arme und im Bruchteil eines Augenblicks schien er dort im Schneidersitz auf dem steinigen Wüstenboden verharrend abzuwägen, ob er überhaupt fortfahren solle oder nicht, und dann, nahezu unmerklich, überließ er sich seinen Bewegungen und das Kinn mit dem Daumen abfedernd, tastete sich der Zeigefinger über die Stoppeln auf Wange und Kinn.
Also was Minyia betrifft, fuhr er angespannten Blickes fort, als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben, gebe ich Brief und Siegel, dass sie neugierig auf diese Welt kam. Seine Augen flackerten. Ein Bild stieg auf, stockte und trübte seinen Blick.
Gott, war sie neugierig, seufzte er unter Tränen.
Aber die Welt war nicht neugierig auf sie.
Er hob den Blick, sprach mit ernsten, großen Augen in die Kamera.
Und Minyia ist nur eines von Millionen Kindern.
Kraftlos wandte er sich ab.

Ich war den Bildern gefolgt.

Wer will schon mit Bestimmtheit sagen. wann genau Minyias Leben begann - falls man überhaupt von einem Anfang sprechen kann und nicht zugleich auch das Ende meint - denn gingen wir davon aus, wir bewegten uns in unserem Leben wie auf einem Land, das uns überlassen seinen Anfang und sein Ende hat, dann sagten wir nicht, schau dir dieses Kleinod an?
Das ist dein Land!
Schau, hier am Ufer, in diesem gelben Sand unter deinen nackten Sohlen beginnt es und unsere Hand würde der sanften Biegung des Baches folgen. Und dort, schau nur, in der Ferne bei jenen Bäumen, dort endet es. Bestelle es, genieße es!
Und wir kämen ob seiner Schönheit aus dem Staunen nicht heraus.
Zweifelsohne hinge unsere Beschreibung davon ab, wo wir in jenem Augenblick zu stehen kämen, welchen Boden unsere Füße berührten, denn stünden sie dort unter jenen Baumkronen, sagten wir unter Umständen, nun, wie du siehst, reicht dein Land von jener Ebene längs des Baches dort bis hierher zu diesen Mandelbäumen und der Blick würde hinauf zu den Kronen ins Licht schweifen...
Wo immer wir auch beginnen, dem Hier oder Dort, unser Geschick ist bestimmt von Geschicklichkeit, dem trotzigen Aufbegehren, das von Anbeginn weit über unsere Kräfte geht.
Im Augenblick der Geburt eines Wesens, einer Idee oder Erkenntnis, zerbricht die Dunkelheit unter der Urgewalt des auflodernden Feuers.
Und wir, wie soll ich das sagen, ersticken das Licht alles neu Geborenen damit die Welt uns so erhalte bleibe wie sie ist?
Fraglos. Es geschieht.
Unaufhörlich...

Ich stehe auf.
Ein Kaffee und eine Zigarette werden mir gut tun...

(diesen Text habe ich für Minyia geschrieben. In einer Reportage aus Afghanistan habe ich von ihr erfahren)













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Ars moriendi

Digital Painting ©reated by Amalie Wissing

Der plötzliche Wettereinbruch überraschte die Menschen im Tal.
Seit Wochen hatten die Hänge am Fuß des Gletschers unter der schmutzig verkrusteten Eisdecke verharrt. Dann, in der Neujahrsnacht, fegte ein gewaltiger Schneesturm über das Tal.
War in einem wilden Tanz von den Gipfeln herab durch die Schlucht gewirbelt. Hatte sich mächtig aufgebläht. Und Myriaden filigraner Kristalle hoch in die Nacht geschleudert. Wie benommen fielen die Flocken aus der Dunkelheit.
Aber das Tal hallte bereits wider von grell aufheulenden Silvesterraketen, die hastig schwänzelnd auseinander stoben. Unbarmherzig knatterten und barsten. Knisterten und knallten. Funkelten und blitzten. Tausendfarben. Tosend. Schlag auf Schlag. Dazwischen immer wieder eine Gischt bunter Flitter. Flirrende Schleier, die leise taumelnd verglühten.
Noch in der Nacht stieg die Temperatur über den Gefrierpunkt. Am Neujahrsmorgen regnete es in Strömen. Schmelzwasser rann. Unaufhörlich. Hoch über dem Tal schwoll der Gletschersee.
Was war das? Moira riss die Augen auf. War das ein Quietschen? Ein Jaulen? Ein Kreischen?
Seit Auschwitz logen ihre Ohren. Und Nacht um Nacht verharrte sie Angst erfüllt am Saum der Dunkelheit. Zitternd rüttelte sie den schnarchenden Mann in ihrem Arm.
- Gustavo! Wach auf!
- Was gibt`s? brummte er.
- Hast du den Krach gehört? Dieses seltsame Quietschen? Sie hob den Kopf.
- Böller! winkte er müde ab und zog die Decke bis ans Kinn. Komm, kuschel dich an!
- Das waren keine Böller, sagte sie angespannt. So ein Geräusch habe ich hier im Tal noch nie gehört.Sie lauschte.
Schlaftrunken setzte Gustavo sich auf. Er gähnte und küsste ihre blanke Schulter.
- Bonne année, mein Engel! Lass es uns gemütlich angehen! Er spürte ihre Unruhe. Der Regen, mein Engel. Der Regen, sagte er, schlug die Decke zurück, tapste steifbeinig durch das Dunkel und schloss das weit geöffnete
Fenster. Mach dir keine Sorgen. Er setzte sich zu ihr. Nahm ihre Hand. Was soll schon passieren?
- Ich habe Angst, sagte Moira. Ich weiß nicht. Dieses Quietschen!
- Irgendein Idiot findet da kein Ende, murmelte er ungehalten. Ist doch immer dasselbe. Wird schlimmer von Jahr zu Jahr.
Sie schaute auf die Uhr.
- Böller um kurz nach fünf? Sie nestelte an ihrem Kissen. Das war ein ganz anderes Geräusch vorhin. Das waren keine Böller.
- Bei dem Regen da draußen konntest du das heraus hören?! Er streichelte ihren Arm. Ist ja ganz kalt!
- Eiskalt? Sie lachte und zog seine Hand unter die Decke.
- Warm und weich ist meine Schöne...
- Komm, leg dich zu mir! lud sie ihn ein.
- Zuerst mache ich uns einen Tee!
- Und die Heizung an! rief sie ihm nach.

Gustavo brachte süßen Darjeeling, einige Stückchen kandierten Ingwer und die kleine Flasche Olivenöl. Die steckte er flugs unter die warme Decke. Die beiden Alten kuschelten sich in die Kissen und schlürften ihren Tee. Dann holte Gustavo das Fläschchen unter der Bettdecke hervor.
- Schau, was meinst du?
Moira prüfte die Temperatur zwischen den Handflächen.
- Ok, sagte sie lachend. Let's do it!
- Ich suche uns eine Musik aus. Rachmaninov? Grieg?
- Something cool, baby.
Während Gustavo das Gran Duo vorbereitete und die Einstellungen an der Musikanlage regulierte, zündete Moira die Kerzen an.
Sie lebten inmitten von Kerzen. Überall in der Wohnung brannten Kerzen. Große und kleinere. Standen in Leuchtern, die einarmig oder mehrarmig waren. Allesamt unpaarig. Und geschenkt. Wie das Leben, sagte Moira. Aber nicht einmal sie verstehe, was das bedeute, sagte sie. Das Unpaarige sei einfach eine Bedingung des Lebens. Ihre Freunde wussten das und hatten sich daran gehalten.
Moira ging ins Bad. Sie lächelte. Kämmte sich. Putzte die Zähne. Pinkelte. Wusch Scham und Möse über dem Bidet. Verteilte nach dem Duschen winzig kleine Tropfen Nr.5 zwischen den Brüsten. Im Nacken. Um die Fesseln und zwischen den Zehen. Wickelte sich in ihren dicken Bademantel und fühlte sich wohl. Den zu lieben, den ich liebe, tut mir gut, huschte ihr durch den Kopf. Aber noch bevor sie sich mit dem Gedanken anfreunden konnte, rollte die Erinnerung mit schwerem Geschütz über sie hinweg.
...Seht her! Bei unserer Freundin tut sich ein Mangel auf. An Leid. An Hass. An Feinden. Pomadig wie sie ist, kommt ihr alles abhanden. Zu lieben und zu leiden ist ein aufreibendes Geschäft. Zu lieben, was man nicht liebt, das verheißt Gutes und! Es lernt sich schnell. Also, meine Liebe, reißen Sie sich zusammen. Und keine voreiligen Schlüsse mehr. Liebe und Hass sind unzertrennlich...
Ihr wurde schwindlig.
- Schönste, fing Gustavo sie erschrocken vor dem Bad auf, wohin des Wegs?
- Erklär mir Hass, flüsterte sie.
- Du solltest nicht so früh aufstehen. Komm, lass dich umarmen. Du zitterst ja wie Espenlaub.
- Werde ich dich verlassen müssen? Moira schaute ihn mit großen Augen an.
- Wo denkst du hin?, lachte Gustavo, begleitete sie zum Bett. Schüttelte ihr die Kissen auf und deckt sie zu. Ich koche dir einen Kakao, einen Tee oder einen Kaffee. Oder von allem etwas, schlug er vor.
Sie trank Pfefferminztee, knabberte an einem Zwieback, aß einen halben Apfel und wünschte sich noch einen Kakao mit einem Häubchen frisch geschlagener Sahne. Dann gönnte sie sich ein Nickerchen.
Bein an Bein lag Gustavo neben ihr und las.
Leise brannten die Kerzen nieder.
Schatten tanzten um die züngelnden Lichter.
Gustavo legte das Buch zur Seite und seinen Arm um Moira.
So schliefen sie eine geraume Zeit und ließen nicht von einander.
Dann kroch Gustavo unter die Decke. Suchte das Fläschchen. Und sie bestellten ihren Acker. Millimeter um Millimeter. Von Kopf bis Fuß. Vertraut und zärtlich, bis sie einander schmerzlich begehrten.
- Rühr dich nicht, mein Engel, flüsterte er ihr ins Ohr. Rühr dich nicht...
Sie fühlte sein Geschlecht gegen den bebenden Oberschenkel, den leisen Schauer, als seine Finger in ihre feuchten Lippen glitten. Lass es geschehen, flüsterte er, lass es einfach geschehen, und drückte ihren Kopf sanft in die Kissen. Kuss um Kuss kosteten sie vom süßen Wein ihres Rebstocks. Überließen sich bebend den züngelnden Flammen. Dem heran nahenden Orkan. Ritten auf den Kamm ihrer Welle höher und höher, bis eine tosende Gischt sie an ein fremdes Ufer spülte.

Im Bad schaltete Gustavo wie jeden Morgen das Radio an. Stützte sich auf den Beckenrand. Zog den Stöpsel auf das Abflusssieb. Ein kurzer Blick streifte den faltigen, nackten Körper. Er schwenkte den Mischhebel auf kalt. Das Wasser rauschte.
- ...Das Leben ist wie ein Film..., hörte er die fremde Stimme.
Er fixierte die Augen im Spiegel. Genau so ist es,murmelte er.
- ...Ein Bild folgt dem anderen...
- Na denn. Sein Kopf tauchte weg.
- ...der plötzliche Temperaturanstieg in den frühen Morgenstunden beunruhigt... das Wasser in den Gletscherseen... hörte er Gesicht unter Wasser und tauchte auf. Prustete wie ein Mann. Schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund. Mich beunruhigt, dass der Film einfach weiter läuft! murmelte er. Die Augen tasteten das Gesicht im Spiegel ab. Falten. Verwerfungen. Kontinentalverschiebungen. Man kann sich nur aussuchen, rief er Moira durch die offen stehende Tür zu, worauf man schaut! Ist es nicht so? Und langte die metallic grüne Sprühdose mit dem Rasierschaum. Nahm die Kappe ab. Las wie jeden Morgen die Nachricht auf dem weißen Dosenkragen. Goede Morgen! und Bien agiter. Federleicht quoll der satte Schaum in seine Hand. Seine Atmung wurde ruhig und tief.
- Komm her oder sprich lauter! hörte er Moira aus dem Off.
- Bist du gelangweilt? fragte er eher aus Höflichkeit denn aus Interesse.
Er erwartete keine Antwort. Er wünschte sich sogar, dass nichts und niemand, auch Moira nicht, ihn in seiner Enklave störte. Seinem Privatissimum. Dem letzten Ritual seiner singulären Männlichkeit. Erinnerte sich an seine neugierige Unbeholfenheit. Das unbeobachtete Üben mit den Utensilien des allmächtigen Vaters. Die wasserschweren Blasen des hastig aufgeschlagenen Rasierschaums, die umgehend die Wangen hinab rutschten und kalt auf die schmale Brust tropften.
Er klappte das Rasiermesser auf und zog die Klinge mit geübter Hand über das Leder am Fensterhaken.
- Deinen philosophischen Betrachtungen fehlt das korrekte Timing! mischte sich Moiras schelmische Stimme unter das Schaben auf Wange und Kinn.
Schon stand sie neben ihm. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel.
- Was hältst du von einem Frühstück? unterbrach er die Rasur und gab sich männlich. So mit Eiern und Schinken?
- Kein Einspruch. Mach, was du willst, lachte Moira, streifte flüchtig seinen Po, ließ den Bademantel fallen und verschwand laut singend unter der prasselnden Dusche.
- ...a media luz, qué brujo es el amor... gaben Radio und Julio Iglesias den Tango vor und tanzten sie in das ockerfarbene Licht müder Sommersonntagnachmittagsalleen.

Gustavo rief sie zu Tisch.
- Ich komme direkt aus Buenos Aires, sagte sie fröhlich und zupfte den Bademantel zurecht.
- Mir fallen unter der Dusche auch die tollsten Sachen ein, lachte er und servierte den Tee. Wenn ich mich, was heißt hier mich, uns – er schaute sich um - an den kleinen Wasserfall, du erinnerst dich?
- Im Park bei Linda und Giorgio?
- Also wenn ich uns dorthin halluziniere, hielt er inne, dann rieche ich...
Mit dicken Socken an den Füßen kam Moira zurück.
- Der Boden ist kalt, sagte sie. Was riechst du?
- Den Jasmin auf deiner Haut. Da, zeigte er, war er besonders intensiv. Komm, nimm Platz!
Sie dankte mit einem angedeuteten Kuss.
- Ich weiß nicht... Sie betrachtete den liebevoll gedeckten Tisch. Schön hast du es uns gemacht. Buchsbäumchen. Kerzen. Ich danke dir. Aber sag, hab ich dir nie erzählt, dass ich fremden Männern mit geschlossenen Augen folge, weil mich der Duft von deinem Loewe hypnotisiert? Und, ergänzte sie und faltete die Serviette auf, wenn sie so gehen wie du.
- So? tat er überrascht. Reichte ihr den Brotkorb. Bon apétit, ma chère! Wie gehe ich denn?
- Du hast den absolut schlaksigen Gang, freute sie sich. Legte das Brötchen auf den Teller und ließ die Hände sprechen. Du bist groß. Schlank. Hast eine elegante Silhouette. Lange Gliedmaßen. Und wenn du gehst, ist das wie eine wunderbare Melodie für mich. Dein Körper. Deine Bewegungen. Alles fließt. Rhythmisch. Gehalten. Auf den Schlag genau. Das ist meine Musik! Ihre Augen leuchteten. Gustavo legte das Messer beiseite. Die Butter auf seinem Brötchen rollte sich. Der Regen trommelte gegen die Scheiben.
- Ich schaue rothaarigen Frauen nach, sagte er und schaute sie seltsam ruhig an, deren Haare so glänzen wie deine.
- So? spitzte sie die Stimme und setzte sich auf. Ihre Augen suchten die Pfeffermühle. Gibt es die? fragte sie weiter, fand das Utensil und schüttelte es. Möchtest du Pfeffer auf deine Eier?
Er lachte schallend.
- Lass gut sein! Bitte keinen Pfeffer! winkte er ab, nahm einen Schluck Tee und wischte sich die Augen.
- Spielen wir halt etwas anderes? bot sie ertappt an.
- Was immer du willst, fighting sqaw, sagte er, solange es nicht das Lied vom Tod ist.
- Gustavo, du machst mir Angst! sagte sie und stellte ihre Teetasse zurück.
- Nimm es nicht zu ernst, Moira. Meine Gedanken wollen nur anders als ich es will.
- Was meinst du? Nehmen wir unser Gespräch unter die Lupe? schlug sie vor.
- Auf geht's! ermunterte er sie.
- Also, begann sie, für mich war das eben ein Spiel. Eins von vielen.
- Ich höre dir zu, sagte Gustavo.
- Und die Spielregeln gelten für uns beide, oder?
- Solange wir dasselbe Spiel spielen, folgte er ihr.
- Ich habe vorhin deine Spielkarte aufgenommen. Jasminduft. Und dann habe ich meine Karte ausgespielt. Loewe-Duft. Dann kam mein glänzendes Haar ins Spiel. Darauf war ich nicht vorbereitet..
- Dem Spiel ist egal, ob du mit Schnipsel oder Klötzchen hantierst, zog er das Fazit.
- Gib mir noch einen Moment. Ich will dir erzählen, was manche Worte in mir auslösen. Duft und Glanz. Das sind besondere Worte. Ich nenne sie door opener. Sie öffnen mir alle Poren. Machen mich leicht. Durchlässig. Wie Nebel.
- Nicht ungefährlich so ein Nebel, schmunzelte er. Du hast es gerade erlebt. Man fällt auseinander, wenn man nichts mehr hat, hinter dem man sich verstecken kann.
- Du sagst es, sagte sie und lachte. Also fort mit dem Nebel. Ich suche mir andere Worte. Fremde Worte. Ein Alltagswort vielleicht. Fliegenschiss zum Beispiel.
- Go on! lachte er.
- Genau, sagte sie. Faites vos jeux! Hier meine Frage: Warum bescheißen wir uns gegenseitig? Markieren den-immer-Anderen mit diesem kleinen, nie versiegenden Fliegenschiss? Milliarden wundervollster Menschen...
- Meine squaw! sagte er, nahm ihre Hand und küsste sie zart. Meine squaw schaut genauer hin. Sieht mehr, viel mehr.
- Gustavo? zog sie die Hand zurück, soll das etwa ein Versuch sein...
- Dich auf andere Gedanken zu bringen? Niemals, wehrte er übertrieben ab und räusperte sich. Wir sehen, was wir sehen, hörte er sich sprechen. Suchte nach dem Strohhalm, der ihn bitte zur Raison bringen möchte. Ich meine, versuchte er erneut Zeit zu gewinnen, wir sehen, was wir sehen können. Und haspelte weiter. Was dann folgt, ist... ist eine Katze aus Porzellan. Imagination. Wunsch. Täuschung, sprudelte es aus ihm heraus.
- Ein Kurzschluss? Im Oberstübchen? stichelte Moira. Ist es das, was du sagen willst?
- Nenne es, wie du willst. Er spürte festen Boden. Jedes Lämpchen spendet so viel Licht, wie es selbst verträgt!
- Weißt du, dass irgendwo auf dieser Erde, erzählte sie, eine Glühbirne seit mehr als hundert Jahren brennt? Ist das nicht wunderbar?! Sie sagen, es läge wohl einzig und allein an dem Glühfaden, der dicker ist als unsere Glühfäden heute.
- Du meinst, lachte er, wir alle könnten einen besseren Glühfaden vertragen
Warum nicht? ereiferte sie sich. Stell dir vor, wir könnten drei-, vier-, vielleicht sogar fünfhundert Jahre leuchten. Lieben. Lachen!
- Da hätte jemand – er deutete mit dem Finger in die Höhe - einen anderen Job machen müssen, meinst du nicht?
Sie wiegte den Kopf.
- Wenn Er sich nur ein bisserl mehr Zeit gelassen hätte, der Gute, wäre Er sicher auch von alleine drauf gekommen. Vielleicht hatte Er endlos Langeweile und nur so a'n Mordsspaß mit uns. Weiß man's? So ist's halt mit dem Mann. Sie lächelte ihn nachdenklich an.
- Ich liebe dich, seufzte er und schob ihr eine süße Dattel in den Mund.
Good bye my friend, it's hard to die, when all the birds are singing in the sky... spielte der Radiosender.
- Komm, wir tanzen! forderte Moira ihn auf.
Sie tanzten. Eng umschlungen.
..it´s hard to die...
Der Regen prasselte und sie tanzten und flüsterten.
- Du erinnerst dich?
- An deinen wunderschönen Händen baumelten diese knallroten Stöckel..
- Die waren neu..
- Und schön..
- Und du hast ein nervöses Take five gepfiffen und mit dieser Papprolle den Takt auf deinen Oberschenkel geklopft..
- Ich weiß noch ganz genau, wie ich mich gefühlt habe..
- Erzähl es mir noch einmal, bitte!
- Du weißt, wie es war. Warst ja dabei. Kamst mir entgegen. Eine feine Silhouette, die mir im Schattenspiel der Kolonnaden einfach nur entgegen kommt. Immer näher. Und dann: ein Blick! Dein Blick. Ich sterbe. Augenblicklich. Bin mir unwiederbringlich. Abhanden gekommen. Eine zappelnde Beute im Fang einer Löwin. Will schreien. Vor Wut. Vor Zorn. Vor Schmerz. Aber da war nur Stille. Eine barbarische Stille. Und ein unsäglicher Schmerz..
- So hast du es mir noch nie erzählt.
- Und du? Lass hören..
- Du kennst das Gedicht Die Beiden. Die Zwei hatten mich schon immer wütend gemacht. Und traurig zugleich. Ich sehe dich. Und das Bild der edlen Gebärde und dem roten Wein, der am Boden rollte, verdichtete sich in meinem Kopf zu einer Endlosschleife. Zu-spät-ist-zu-spät leierte es mich in eine bedrohlich bleierne Übelkeit. Ich wollte, ich brauchte...
- Was?
- Das alles entscheidende Zeichen.
- Es war doch schon alles entschieden.
- Nicht für mich. Ich konnte mich doch immer noch falsch entscheiden.
- Dank sei Gott nicht gegen mich! lachte Gustavo und hielt sie fester.
- Und du hast meine roten Schuhe in hohem Bogen in den Tiber geworfen..
- Und das Gleichgewicht verloren. Als ich dich über die gedachte Schwelle tragen durfte.
- Du erinnerst dich an Die 2?
- Unser Papierschiffchen..
- Hör mal!!
........lerin ist tot, meldete das Radio, Pilger fanden ihren leblosen Körper in der Kathedrale des Heiligen Jakobus in Santiago de Compostella. Lawa hatte von sich reden gemacht, als sie sich in einer lebensgefährlichen Aktion in den aktiven Krater des Cotopaxi erbrach. Lawa wurde achtund... Entschuldigung, ich korrigiere – nein, ich unterbreche...
- Hast du das gehört?!
- Nichts haben sie verstanden!
- Hör doch!!Ganz..
Nah. Viel zu nah. Das Tosen und Krachen der Riesenwelle, die aus dem berstenden Gletschersee ins Tal schoss, alles mit sich riss und unter sich begrub.





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Mary goes fishing

Painting ©reated by Pejman Tadayon

Trotz der Jahre, in die ich, ich weiß nicht wie, gekommen war, schweiften meine Gedanken denen eines Kindes gleich.
Entspannt lag ich auf dem Sofa, das mir seit Jahren als Bett diente. Am Horizont die Hügelkette streifend. Im Sommer Auge in Auge mit den Kirschen in Nachbars Garten, die zu hoch über dem Boden schon jetzt den Vögeln gehörten.
Der Wind wehte durch die Blätter.
Die Seiten meine Manuskripts segelten vom Tisch auf den roten Teppich. Darüber türmten sich die Wolken. Warfen durch das geöffnete Fenster einen Blick in alle Spiegel. Ließen auf der Spitze eines Zeigefingers einen Hasen Männchen machen. Fasziniert von einer Schnecke, die sich stieläugig heran tastete. Sie zog eine schaumgeschlagene Staatskarosse mit einer Äffin und ihrem Jungem durch das All. Ein Alligator schob sich gähnend durchs Gewühl und schluckte einen Riesenfalter. Ein Herz zerbrach ganz nebenbei und eine Tulpe übte Hulahupp.
Die Vögel zwitscherten ohne Unterlass.
Auch wenn ich sie hörte, galt der Gesang nur ihnen selbst. Nicht mir. Nicht der Parade. Und ein Hauch von Vanille, der von der Fabrik herauf drang, galt mir ebenso wenig wie den Wolken. Aber Vanille verstärkte das Blau. Und in einem blaueren Blau sind weiße Wolken weißer. Hätte ich die Augen geschlossen, hätte ich den anderen Himmel gesehen.
Gelb.
Mit dunklen Wolken.












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Eine schöne Geschichte

Painting ©reated by Cecilia Scaffo

Jede Geschichte kann schön sein, oder?
Ich weiß, oft schauen wir weg, kneifen die Augen zu, mal eins, mal beide.
Wollen oder dürfen manches nicht sehen, so unerträglich kann ein Anblick sein. Tränen trüben unseren Blick oder eine Erinnerung, die niemanden etwas angeht.
Jede Geschichte kann schön sein. Man muß ihr nur Zeit geben, oder?
Du sagst, deine Zeit ist begrenzt, aber ich will meine Zeit den Geschichten geben, damit sie schön werden. Blühen. Rot wie der Mohn in den Feldern. In der Zeit, die mir ist. Und niemand wird mir sagen können, wann sie aufhört, Zeit meiner Zeit zu sein. Aber ich halte die Augen offen, weil ich weiß, daß eine Geschichte nur dann schön sein kann.
Jede Geschichte kann schön sein. Man muss ihr nur einen Raum geben, oder nicht?
Ich weiß, Raum ist aufgeteilt in Räume.
Bewohnbare und unbewohnbare, erreichbare und unerreichbare.
Warme und kalte Räume.
Helle und dunkle. Räume, die man nutzt und Räume, die man meidet.
Räume, in die man geworfen wird und solche, die man aufsucht.
Hallen, Keller, Kerker, Kirchen, Friedhöfe, Wälder, Meere, Seen, Galaxien.
Ach, was erzähle ich dir.
Jede Geschichte kann schön sein. Man muss nur die Augen offen halten, oder?
Du sagst, ich habe die Augen offen gehalten, meine Zeit gegeben, die bewohnbaren, die warmen und hellen Räume gesucht, mein Herz aufgebrochen und den letzten Tropfen Blut herausgepreßt, damit sie so schön wäre, wie eine Geschichte nur schön sein kann.
Schön. Unendlich schön.
Manchmal muß man ganz leise sein, sie träumen lassen...
Kommt, leg dich her...
und schließ die Augen...
träum...
das Herz ist ein Nistplatz der Ewigkeit...
träume Träume, Traum...


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Compass Tuning Facts

Digital Painting ©reated by Amalie Wissing

Was soll ich mit dir machen, Tür?
Soll ich dich bewegen, stellen, restaurieren, zeigen, nutzen, pflegen, öffnen, halten, verwalten, funktionalisieren, tauschen, genießen, probieren, schließen, beschreiben, bewundern, erforschen, beweinen, mich an dich schmiegen, mit dir spielen, dich verstecken, fassen, befühlen, ein Haus dir bauen, einen Weg bepflanzen, kommen, gehen, dich im Wasser spiegeln, Elementen überlassen, ölen, weihen, segnen, singen, tanzen, dich begrüßrn, nehmen, tragen, dir zu Füßen liegen, dir zu essen geben, hast du Durst, willst ins Theater gehen, soll ich um dich weinen, dir erzählen, mich unter dir verkriechen, dich zum Lachen bringen, schönen Frauen zeigen, schaukeln, wippen, balancieren, auf eine Rutsche heben, fangen, mit dir schwimmen, tauchen, springen, in die Berge, in den Wald. soll der Mond dich spiegeln, willst du keine Tür mehr sein, lieber einen Lutscher, einen roten Schuh vielleicht, soll ich dir ein Brötchen backen, Verse schmieden, Federn wärmen, eine Tasse, einen Krug dir reichen, Pinsel, Staffelei oder bist du Violine, Flöte, Tamburin, eine Kesselpauke, eine rosarote Brille wäre schön, ein Vogelhäuschen auch, Spielzeug, eine Leiter, Wiege, Schirm, stell dir vor, einen Brunnen kann ich auch, eine Lampe, eine Glocke, oder willst du Schminke, kochen, würzen, haltbar machen, Kinder könntest du verhexen, Hasen jagen, schnupfig sein, soll ich zur Sonne sagen, schöner bist du nie und dem Regen stecken, dass er nichts als fällt, willst du blühen und verwelken, sein, was nichts als aus dem Takt zu kommen weiß, oder soll ich dir erzählen, was ich träume, Tür?
Tür der Türen, du bist schön. Ich rede schnell und du bewegst dich fort und hin und her mit tun-wir-mal-als-sei-nichts Miene, schelmisch elegant in Disziplin und leiser Kraft, seidenweich ist dein Geruch, ach, Duft, wie Fittiche so warm, sprichst mir aus der Seele, Licht im Flügel einer Taube und mein Herz, will fliegen, hoch und weit. Du streifst mich, willst erwidern, bleib doch, wenn du kannst? Hier hat kein Geheimnis Platz.
Laß dich küssen, Tür, und streicheln, sanft und zart, lass die Saiten klingen, klüger als geträumt nimm mich in die Arme, wieg mich in Sicherheit, heb mich aus den Angeln, komm!
Tür? Ist die nicht gut? Warum quietschst du so?

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Meine Worte

Painting ©reated by Pazza Pennello

...wer immer sie findet, mag sie behalten und sein eigen nennen, wenn ihm danach ist. Mir liegt nichts mehr daran. Klein sind sie mir geworden. Wie ein Pullover aus Kindertagen. Allein beim Überfliegen der Zeilen schnürt es mir die Luft ab...
Das sind die besonders Sensiblen, hat Fräulein Knaup gesagt. Meine erste Lehrerin.

Ob sie es war, die Wert auf die Anrede Fräulein legte oder ob es den Verheirateten ihren Alters, die mit Frau angeredet wurden, zum Vorteil oder zur Ehre geschah und ihr als Unverheirateter somit zur Schande sein musste, kann ich nicht sagen.
Ich war Kind, damals in einer Welt, die Frauen in Tanten, Großmütter, Mamas und Mütter, Frauen und Fräuleins teilte. Mädchen, Backfische, Gören, Blagen und Zicken waren noch keine Frauen. Sie waren Jungfrauen.
Ein Zustand, dessen Ende einzig und alleine durch eine kirchliche Heirat angestrebt werden durfte. Einer standesamtlichen Hochzeiten schenkte niemand auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Vielleicht gab es sie deswegen auch gar nicht.
Heute von etwas zu sprechen heißt doch noch lange nicht, das es schon immer da war, oder?

Hör dir den folgenden Satz an.
Ich habe hin und her überlegt, ob ich die städtische Müllabfuhr in Anspruch nehme, die Sammelcontainer oder die Entsorgung in freier Natur...
Früher hätte kein Mensch so etwas gesagt. Zumindest nicht dort auf dem Land, wo ich groß geworden bin.
Sammelcontainer.
Allein auf das Wort wäre niemand gekommen. Sandpuper! Das war ein Wort, das bewegte. Kein starres Hülsenwort für etwas von dem man lieber nicht wissen will, was drin ist. Sandpuper kann man sich gut merken.
Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Ich spreche von all den verwaisten Worten, denen man das Wasser abgegraben hat, die im Staub liegen und die ihre verdorrten Wurzeln von sich strecken.
Ich habe sie vorsortiert, meine Worte.
In Sommerworte und Winterworte. Worte für Freunde und Worte für Fremde. Nach Farben. Oder Höhen und Tiefen. In Scharf, süß, sauer und salzig. Kalt, kühlend, wärmend, warm. Aufrecht und gebeugte Worte. Einsam. Schmackhaft und verziert ...
Zweier, dreier, vierer Worte. Du. Ich. Hier...
Geraspelt habe ich sie und leicht gesalzen. Fein gewürzt mit Ingwer und mit Kardamom. Zu kleinen Klößchen gerollt, in leichtem Aprikosensud geköchelt...
Seziert habe ich sie. In Scheibchen geschnitten, auf Fäden gezogen, in meinem Zimmer von einer Wand zur anderen gespannt im Wind getrocknet.

Fräulein Knaup war meine Lehrerin in der Dorfschule, zu der mich ein Feldweg an Klatschmohn, Kuckuckslichtnelken und Bullenwiesen vorbei führte. Eine Stadt und eine Schule in der Stadt gab es auch. Aber Gott sei Dank musste ich dort nicht hin.
Im Sommer gingen wir barfuß und im Winter schütteten wir jeden Morgen vorsichtig und schäufelchenweise fette Eierkohlen auf die Glut im Ofen. Und die Schülern der ersten bis zur dritten Klasse teilten sich den Raum und Fräulein Knaup.
Während die dritte Klasse Mathematikaufgaben löste, erzählte sie uns I-Männchen ganz aufgeregt vom eitlen A, das mit der Bahn in die Stadt fahren musste, wo es sich zum Geburtstag einen Hut leistete. Und weil auf dem Hut zwei große bunte Federn wippten, wurde das A noch eingebildeter und verlangte von allen, ja, sogar von den besten Freunden, dass sie es von nun an auf alle Zeiten mit dem höflicheren Ä anzureden hätten...

Ihre Worte..

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Painting ©reated by Marie-Denise Douyon