Die Kaiserliche Größenfestellerin

Photo ©reated Helena Afonso

Am Hofe des Kaisers, der die tausend Gemächer und die neunundneunzig Minister des altehrwürdigen Kaiserlichen Großvaters, dem Einzigen Meister der feinen Rede und des ausgesuchten Geschmacks geerbt hatte, lebte einst die Kaiserliche Größenfeststellerin Lin Sin Fu.
Niemand bei Hofe hätte auch nur daran gedacht, das Jahr ihrer Geburt zu schätzen. Und niemand wagte, bei den abendlichen Schwätzchen im Kaiserlichen Schatten des Kaiserlichen Bambushains neben dem Kaiserlichen Brunnen auch nur ihren Namen zu erwähnen. Wo immer man ihr im Palast begegnete, geschah dieses still und voller Ehrerbietung. Und hätte das Kaiserliche Hündchen neben Lin Sin Fu auch nur einen Funken Kaiserlichen Verstandes gehabt, hätte es den Gürtel der Tonlosigkeit um seine Herrin bemerkt und sich vielleicht gefragt, warum niemand sich seiner Herrin näherte, geschweige denn mit ihr sprach oder je das Wort an sie gerichtet hatte, es sei denn, sie deutete ihr Einverständis mittels des Kaiserlichen Rituals der Aufforderung an.
Aber selbst dann war man in Rede und Gebaren gebunden. Ja, das Kaiserliche Ritual verlangte Zeit, die nicht jeder hatte und die Gesten des Kaiserlichen Hofes wollten beherrscht sein und nach dem Gesetz der Harmonie und Vollkommenheit perfekt ausgeführt werden. Nichts am Kaiserlichen Hofe war jener Schmach vergleichbar, die ein fehlerhaft ausgeführtes Ritual unweigerlich nach sich zog.
Allein das Wort fehlerhaft wurde emsig vermieden, wie manch anderes Wort auch und wenn man Worte vor das Kaiserliche Gericht hätte zerren können, wären sie zweifelsohne zum Tode durch das Schwert verurteilt worden, aber da es nicht üblich war, Worte vor Gericht zu bringen, denn wer wollte schon ein Wort verteidigen, brachte es doch einem Kaiserlichen Beamten keinen einzigen Kaiserlichen Yen in die Tasche und wusste ein Wort doch außer sich selbst kein anderes zu benennen, so hatte es schon lange keinen Daumen, den es zuerst auf des Kaiserliche Tintenkissen drücken und dann unter das Kaiserliche Dokument auf dem Kaiserlichen Papier setzen konnte.
Also wundert es nicht, dass Worte mit dem Bann belegt wurden. Und jeder, der sich ihrer annahm, sie aussprach oder nur versehentlich andeutete, wurde als Verräter des Kaiserlichen Rituals aus der Gemeinschaft der Sprechenden verbannt und verbrachte den Rest seines Lebens in tiefem Schweigen.
Sein Gegenüber erhöhte man, indem man sich selbst erniedrigte. Auf diese Weise Achtung und Lob auszudrücken, konnte bis zu zwanzig Verbeugungen, elf Kniefälle und zwei mal drei Schritte rückwärts verlangen, wenn man sich, wie hier beschrieben, zu Ehren eines der Kaiserlichen Beamten der neunundneunzig Kaiserlichen Minister erniedrigte.
Das Gesicht unaufhörlich zu Boden gewandt, ohne je den Blick zu heben, stellte sich manchem Bittsteller von den Ritualen ermüdet die Frage, ob die Kaiserlichen Beamten vielleicht andere oder möglicherweise überhaupt keine Augen haben könnten. Aber so pfeilschnell der Gedanke sie traf, so hastig mussten sie ihn fliegen lassen.
Lin Sin Fus flinken Augen wiederum blieb nichts verborgen.
- Schau dir dieses Bild an. Ja, das ist sie. Das ist Lin Sin Fu, deine Großmutter. Die Kaiserliche Größenfeststellerin. Du bist erstaunt, weil du sie nie als junge Frau gesehen hast. Ja, sie lächelt. Ein wunderschönes Lächeln, nicht wahr? Ich sehe, du lächelst auch. Du staunst und bist neugierig von mir zu hören, welcher Zauber sich dahinter verbergen mag, dass deine junge Großmutterfrau dich nach unendlichen Monden anlächelt und dir ihr Lächeln schenkt? Das ist ein großes Geheimnis, das kannst du mir glauben. Und dieses Geheimnis hat bis zum Sonnenaufgang kein Mann je erlauscht. Sollte ich irren, belehre mich eines besseren. Aber sag mir, wo immer Mädchen aufgeregt ihre Köpfe zusammenstecken, tuscheln und giggeln, verstummen sie nicht augenblicklich, wenn ein Junge sich ihnen nähert? Ist das nicht Beweis genug?
Dein kleines Lächeln erweist mir die Ehre der Nachsicht, denn wie kann ich nur angenommen haben, du gingest mit blinden Augen durch die Welt, wo du doch, wie ich sehe, recht hübsche Augen hast, mit denen du die Welt erkundest.
Nun aber genug der Schwätzerei, der Tee in der Schale ist schon kalt geworden. Ich höre, mein Tagewerk ruft. Du magst deinen Gedanken nachhängen oder mir folgen.
Ich verehre meine Tante Mae Li. Leise und bestimmt geht sie ihren eigenen Weg. Und ich habe das Gefühl, falls ich als Neunjährige schon so sprechen darf, sie stellt die Welt auf den Kopf. Vielleicht ist es bei Ihnen erlaubt, Kindern vor dem Schlafen gehen Märchen und Geschichten zu erzählen. Tante Mae Li, wie Sie mit eigenen Ohren gehört haben, erzählt ihre Geschichten am liebsten in der Früh. Und das ist wie ein Sonnenstrahl oder eine Schale duftender Reis...
(to be continued..)

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