Sadika

Painting ©reated by Knut Kargel

Sadika ist auf dem Weg in den Hof. Wie ehedem, lange vor ihrer Hochzeit mit Almir.
Aber den Hof gibt es nicht mehr, und kein Wind weht ihr die versengten Haare aus dem Gesicht.
Kein Wind. Nicht Haschim. Nicht Aziz. Kein jeden Morgen. Nur Sadika. Mit blutigen Händen und geschwollenem Bauch. Ihr Körper, ein Körper, der die Last nicht mehr trägt.
„Ich träumte, jemand hätte für mich geweint“, höre ich sie noch, und wie ein schwerer Tropfen fällt sie zu Boden.
Ihr Körper. Ein Körper im Staub. Staub, den sie und ihre Kinder sich lachend und schimpfend mit flachen Händen aus den Kleidern schlugen. Staub, mit dem Kinder an sonnenlichten Tagen wilde Zeichen auf Wangen und Stirne malen. Staub, der jetzt mit dem Atem aufgesogen und am Nasenschleim festbackend einen immer dicker werdenden Pfropfen bildet.

Und der Körper bäumt sich auf, schlägt mit den zerschundenen Armen um sich, schnellt hoch, fiepst schrill bis ins Tonlose, erbricht sich, würgt. Spuckt Schleim und Kot.
„Maria, schnell !“
Maria kann mich hören, aber sie spricht nicht mehr. Ihr Mund, eine kieferlose Wunde. Was sie an Wasser zu sich nimmt, weint sie aus. Seit damals. In der Erinnerung das Bild von ersten Schneeflocken auf ihrem zerschlagenen Gesicht.
Handeln. Kein Ekel. Kein Klagen. Nur jetzt nicht. Kein Fragen.
Jeder Handgriff sitzt. Wie alles, was du immer wieder übst und zu gut das Wissen, dass ein geschändeter Körper jede Berührung abwehrt. Auch Sadika zuckt zusammen wie unter einem Todesstoß.
Wir legen sie auf Refikas Leinenrock und tragen sie behutsam wie einen Kokon durch Schutt und Geröll hinter den Brombeerstrauch an der zerschossenen Mauer.
Munira hält Ausschau.
Gibt uns Zeichen. Entspannung zwischen Entwarnung und Halt.
In der zerbombten Scheune ein spärliches Holzfeuer. Regenwasser. Lumpen. Feuchtes Stroh und Decken. Ein geschützter Verschlag. Mehr hat man uns nicht gelassen, um ein Leben zu retten.
Niemand sagt ein Wort. Zu stark die Bilder. Zu unerbittlich der Wille.
Ich atme tief ein. Spreche lautlos das Gebet: Nichts als das Gute. Heilung und Segen. Nicht von uns, aber durch uns. Klar. Unbegrenzt. Hell. Wie das Licht. Dein Licht.
Senada. Munira. Refika. Alle spenden Trost. Auch Maria, die unaufhörlich weinende Quel-le. Munira und Refika wechseln sich ab. Sie bauen ein Versteck, und bei Einbruch der Dunkelheit tragen wir Sadika dorthin.
Wir teilen eine Nachtwache ein. Ich habe Zeit bis in die frühen Morgenstunden.
Irgendwo... wohin? Nirgends? Wo? Stechend ein Wunsch und nur dieser eine! Ich will nach Hause! Nach Hause! Zu meinen Kindern!
Tränennaß sacke ich zusammen. Schreie. Kreische mir die Seele aus dem Leib: „Mei-ne-Kin-der! Zu-mei-nen-Kin-dern! Was habt ihr gemacht? Ich will zu ihnen! Aaziiz! Haaschiim! Wo-seid-ihr? Aaziiz! Haaschiim!“
Maria packt mich, zieht mich hoch, und an ihr hängend schleift sie mich zum Versteck.
In weiter Ferne Senadas Stimme: „Kein Wasser ... morgen früh ... hohes Fieber ...“ . Wie durch eine Spirale dreht es mich fort.
Ich weiß nicht, wie lange Fieber und Träume dauern. Was ist schon ein Tag, wenn man nicht lebt?
Maria war es, die mir das Folgende zu lesen gab. Irgendwann.
- Ich schreibe es auf. Für dich. Manchmal habe ich große Angst um dich, weil ich denke, du wirst verrückt. In deinen Fieberträumen bist du sehr erregt. Ein tobendes, tosendes Wasser. Redest wispernd, zischelnd leise. Gefährlich, wie die giftigste aller Schlangen wartest du auf die imaginäre Beute. Schnappst zu und schleuderst sie unter gellendem Hohngelächter in den tiefsten Höllenschlund. Schaurig, dir zuzusehen. Schaurig, dich zu hören. Dich. Die Stimme:
... O nein, glaub ja nicht, dass ich bis zum Jüngsten Gericht warte, um Zeugnis von dir zu verlangen!
Jeder Handschlag soll dich anklagen! Schleudert dir das erbrochene Elend ins Gesicht, verpestet deinen Himmel zu einem Schweinekoben.
Sag, wie vertragen sich Halleluja und Entsetzensschreie? Wo versteckst du die abgehackten Gliedmaßen inmitten all der himmlischen Heerscharen? Welche Puzzleteile fehlen dir noch in deinem makabren Irrgarten?
Nach Deinem Ebenbild!? Wir?
Zitterst du auch in irgendeiner Ecke deines Minen übersäten Kratergartens und kotzt dir die Seele aus dem Rest an Leib, den man dir gelassen hat?
Und deine Heiligen? Kriegen in deiner Gegenwart vor lauter Verklärung und Herumscharwenzeln das Maul nicht auf?
Schmeicheln und schleimen nach Herzenslust wie eine erpressbare Bande heruntergekommener Höflinge?
Jagt euch doch gegenseitig aus dem Tempel!
Aber vorher, komm, sag noch einmal: Lasset sie zu mir kommen, und vergiss diesmal nicht: im Ganzen bitte und nicht zerstückelt!
Und deine Mutter?
Was ist mit ihr?
Hat sie dir noch immer nichts zu sagen?
Isst am Katzentisch ihr Manna, während du dich gelehrt und geehrt mit der Kaste der Intelligentia delektierst?
Worauf wartet sie denn noch? Oder hast du sie so zusammengepfiffen, dass sie nur noch kuscht und nicht mehr spürt, dass ihre Stunde längst gekommen ist? Weißt du, was ich dir sage?
Ein Lackaffe bist du!
Ein eingebildeter Fatzke!
Ein zynischer Egozentriker!
Menschenverächter!
Kriegsgewinnler!
Selbstbeweihräucherer!
Blindgänger!
Deine Einfalt kotzt mich an!
Schau dir die Frauen an! Schau sie dir an! Schau sie dir genau an! Nimm dir Zeit, so wie ihre Folterer sich auch Zeit nehmen! Und dann sag mir, was sie getan haben, dass man ihnen und ihrem ganzen Volk zufügt, was keine Sprache der Welt sich traut beim Namen zu nennen!
Buße nennst du das?
Du traust dich echt, das mal ganz locker so zu sehen?
Todsünde?
Wer hat sich denn an wem vergangen?
Deine rachsüchtige Kamelle vom Apfelgripsch zeigt doch, wes Geistes Kind du bist! Ein neidischer Sabberer!
Mein Nachbar hat mich aus seinem Garten verjagt, als ich seine besten Kirschen aß. Heute reden wir miteinander. Gleichberechtigt.
Und er leitet nicht einmal wegen des Stehlens ein Recht über mich ab.
Kein Recht, hörst du? Kein Recht!
Ich glaube, es ist ihm noch nicht einmal in den Sinn gekommen!
Und die Vergewaltiger? Die Schlächter? Die Folterer?
Was haben sie getan, dass man sie hintergeht, in die Enge treibt, zwingt, jawohl, brutal zwingt, ihre Wärme, ihre Zärtlichkeit, ihre Behutsamkeit, ihren Sanftmut zu verraten?
Brauchst du sie noch immer, um deinen Kreuzestod zu rechtfertigen? Muss es immer Schlächter und Geschlachtete geben, damit du nicht überflüssig wirst?
Die ständige Wiederholung dieses, ach so zufälligen Spiels von Gut und Böse zeigt, wie grausam du bist. Wie unerbittlich!
Warum bist du damals nicht vom Kreuz herabgestiegen und hast dem Spuk nicht ein für alle Mal ein Ende gesetzt? Dein Kreuz zerschmettert und den verdutzten Jungs eins in die Fresse gehauen?
Das wäre ein Fingerzeig Gottes gewesen, denn jeder Getötete und Gequälte würde auferstehen, jetzt und sofort und immer wieder!
Groß und schauerlich!
Gib es doch endlich zu! Du wolltest es nicht anders! Brauchst das kollektive Gewichse, ... bim - bam ... peng! Ra-ta-ta-ta-ta! Eine grauenvolle Lust, nicht wahr?
Täter?
Opfer?
Rechts - links. Eins - zwei. Eins - zwei.
Nein! Endgültig nein!
Ich bin nicht mehr Teil deines abhanden gekommenen Gewissens!
Nie und nimmermehr!
Sieh zu, wie Du klarkommst! ...

Maria ist gestorben. Neben dem Brombeerstrauch haben wir sie begraben.
Bald fiel wieder der erste Schnee.
Maria.
Das Bild eines lichthellen Eiszapfens im winterblauen Himmel.
Ein gläsernes Klirren auf hartgefrorenem Boden.

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