Herr X macht blau
Painting ©reated by Margarita Morales
Um drei Uhr vierundzwanzig des ersten November neunzehnhundertneunundneunzig erstickte er an seinen Träumen und war tot genug, daß seine Frau ihn guten Gewissens beerdigen konnte, aber nicht tot genug, als daß er wirklich tot gewesen wäre.
Hatte er die Zeit bislang mit der ihm eigenen Innenwelt in der Außenwelt seines Körpers verbracht, fühlte er sich von diesem Zeitpunkt an aller lästigen Fleischmassen enthoben und begann, sich auszubreiten.
Die Redezeit seiner Träume war angebrochen. Er musste sich nicht mehr sputen, nichts mehr tragen, sich keinem Raum mehr anpassen, den man ihm zur Verfügung stellte. Seine Sprache musste nicht mehr verständlich sein. Er konnte nach Herzenslust grunzen oder quietschen, wann immer ihm danach war.
Längst hatte er nicht mehr damit gerechnet, aber es war eingetreten. Und was er sich ebenfalls nicht hatte vorstellen können, war das Empfinden, einen riesigen blauen Sack um sich zu haben. Vielleicht war in ehemaliger Brusthöhe. Oder war es der Bauch? Aber die Orte waren ihrer Begrenzung beraubt und insofern bedeutungslos geworden.
Aber das Blau war da. Und zu seiner Überraschung war er nicht der einzige, den dieses Blau umgab. Eine Heerschar von blauen Säcken tummelte sich um ihn herum und er wusste sofort, dass er auf dem riesigen Trödelmarkt der nicht gelebten Träume war.
Pralle Säcke platzten mit lautem Knall und gaben Schätze preis, die der Verstorbene nicht hatte zurücklassen dürfen, denn wer mag sich schon mit den unsterblichen Resten anderer abgeben?
Den großen Konzertflügel erblickte er sofort, zerknittertes Zellophan, bunte Glitzer, Sterne, Malstifte, Flöten, Trommeln, ein Kullerband, Weltkarten, Bücher, Segelschiffe, Sand und frag mich nicht, was sonst noch alles zum Vorschein kam.
Sollte nun jemand meinen, man hätte nur das Knallen der Säcke gehört, so täuscht er sich, denn die wunderlichsten Laute und Klänge schubsten und drängelten sich inmitten von himmlischen und höllischen Düften durch den Äther.
Er sah den großen Bazar in Kairo!
Vor vielen Jahren war es sein sehnlichster Wunsch gewesen, seine Reise durch Ägypten dort auf unbestimmte Zeit zu unterbrechen.
Wenigstens einmal wollte er dorthin zurück kehren.
Und jetzt war er da. Er konnte es nicht fassen. Wie denn auch? Es gab kein Maß, das ihn hielt. Nicht einmal die Urne.
Und so nahm er auf eine ihm ungewohnte Weise teil am Geschehen, war Lärmender und Geräusch in einem. Kein Graben trennte die Ufer seiner Träume.
Er war die zartgrüne Farbe der Kardamomschote, der Duft einer Zimtnelke oder Limone, das Quietschen eines Rades, der Flug einer Schwalbe mit Minzgeschmack.
Nichts stellte sich ihm in den Weg. Nicht einmal, als er sich am Blau der Pharaonen versuchte. Es ward ihm nicht verwehrt.
Unversehens fand er sich im Tal der Könige wieder, verfing sich mit dem heißen Wüstenwind in den Rockschößen einer Touristin, die ihn wiegenden Schrittes in eine der unzähligen ausgeweideten Grabkammern trug, wo er sich fallen ließ.
„Spinnenkrabbe hell und dunkel“ foppten sich Kinder hinter einer noch unentdeckten Wand.
Wie lange sie zusammen spielten, kann man nicht sagen.
Zeit war das, was man war oder empfand. Und das war das gleiche.
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