Aus dem Herzen Deutschlands
Painting ©reated by Olga Kalashnikova
Holzminden, im April ...
Liebe Nora,
wie verabredet, kam dein Freund gestern und hat das Buch für dich mitgenommen. Ich wünschte mir, Dich in Africa besuchen zu können. Wie du siehst, schreibe ich es noch immer mit einem „c“ , damit es sich nicht so kantig und fremd zeigt.
Ich habe dir versprochen, in Gedanken an dich und unsere Gespräche meine Erlebnisse, oder zumindest einen Teil davon, der nicht unbedingt das Leben im Landschulheim betrifft, aufzuschreiben.
In dem Telefongespräch habe ich dir angedeutet, dass ich einen Freund nach langen Jahren wieder getroffen habe und ich will dir die Umstände und Auswirkungen nicht vorenthalten.
Hätte ich nicht gesagt, gut, ich fahre, selbst wenn es sich seltsam anhörte und ich eigentlich keine vernünftige Erklärung dafür hatte, könnte ich dir nicht davon erzählen, denn wer kommt schon auf die Idee, in einer fremden Stadt Bücher anzuschauen, aber ich sah kein anderes Bild vor mir als dieses, und obgleich ich es mit Worten einrahmte, blieb es mir bei all seiner zwingenden Dringlichkeit dennoch verschwommen und unbegreiflich.
Entgegen meiner Gewohnheit hier am allgemeinen Abreisetag, verließ auch ich kurz nach Mittag das LSH. Von meinen Schülerinnen und einigen Kollegen - erinnerst du dich an „Robinson“ und „Mr. Cool“? - hatte ich mich mit dem Hinweis auf meine bevorstehende Exkursion verabschiedet, und ich muss zugeben, dass ich dieses vorsorglich tat, denn mit dem Gesagten, so unauffällig es sich auch aufgrund der allgemeinen Konventionen in den Tagesablauf einfügte und kaum wahrgenommen wurde, markierte ich mit unverrückbaren Zeichen den Weg, den ich noch nicht entschlossen war zu gehen. Mehr um mich abzulenken, machte ich meinen Rundgang durch die Flure und um das Haus. Dann habe ich ohne jede Verzögerung Sachen für einen kurzen Aufenthalt gepackt und das Taxi bestellt.
Als ich nach fünfzehn Minuten auf dem Lehmannweg herum spazierend langsam unruhig wurde, sah ich einen Moment lang die Falle des Schicksals zuschnappen, das sich schnöde über mich lustig zu machen schien.
Wenn du glaubst, du kannst mich hier wie bestellt und nicht abgeholt in der Landschaft stehen lassen und vor allen lächerlich machen, weil ich sage, ich fahre, und dann fahre ich doch nicht, dann hast du dich getäuscht. Ich fahre! Ist das klar?! Und zwar jetzt und keinen Zug später!
Ins Nichts hinein hatte ich mit meinem Schicksal gesprochen. Eine völlig neue Situation! Noch nie hatte ich mich direkt und dann gleich so unhöflich an mein Schicksal gewandt. Das war kein Hadern mehr. Natürlich war ich verwirrt, aber da kam das Taxi schon den Weg hoch gefahren.
Während der Zugfahrt folgte ich meinen Gedanken zunächst noch recht unbeholfen, doch dann überstürzten sich die Fragen. Warum hatte ich mich nicht schon früher auf diese doch erfolgreiche Art und Weise zur Wehr gesetzt und mich jahrelang von einem feigen Etwas an der Nase herum führen lassen?
War das das Schicksal? Sollte es keinen Zusammenhang mehr zwischen Unglücks-Genen, Sozial-Ökonomien und falscher Ernährung geben? Keine ursächlichen klimatischen Bedingungen?
Marx oder anderenorts Entarteten konnten plötzlich auch keine Schuld mehr aufgebürdet werden? Es war nicht mehr übertragbar? Und es bestand auch keine Gefahr einer Kontaktallergie?
Ich wollte es nicht glauben, aber der Kobold hatte sich zu erkennen gegeben! Er saß in der Falle. Ich hatte mein Schicksal in der Hand. Und nur einen Wunsch. Er kam mir leicht von den Lippen wie manch einem der Rosenkranz.
Bitte bleibt mir von nun an fern mit euren gesponnenen roten oder blauen Fäden, den erwirkten Zusammenhängen, die niemanden mehr verzaubert erstaunen lassen und bleibt mir fern mit eurer Beflissenheit, mit der ihr euch immer wieder einer richtigen Lösung an die Fersen klebt wie ein altes Pflaster. Wenigstens für eine kleine Weile verschont mich damit und lasst es mich genießen: das Gefühl frei zu sein. Amen.
Die Züge fuhren pünktlich ein. In Magdeburg fiel mir auf, dass ich meinen grünen Regenschirm im ICE vergessen hatte und ich sah im selben Augenblick meinen blau-weißen LSH-Schirm im dunklen Flur meiner Wohnung stehen. Was konnte der mir jetzt nützen? Ich erinnerte mich an den Ausspruch eines Freundes im Süden, der eines Tages meinte, für mich brauche man mehr als einen Regenschirm. Vielleicht ist einer weniger einer mehr, philosophierte ich. Ein Mehr an Himmel war sicherlich über mir und in der nächsten Stadt ein Meer von Regentropfen auf meiner Brille.
Wo ist die Touristeninformation in dieser Stadt? Sie gehen aus dem Bahnhof heraus und ...wissen nicht, dass sie eine riesige Baustelle erwartet, aber das sage ich ihnen nicht, denn sonst kommen sie vielleicht nicht oder ich müsste länger mit ihnen sprechen, aber meine Blase drückt und das ist kein Thema für ein geschäftliches Telefonat, verzeihen sie mir also, wenn ich mich kurz fasse... Sie gehen also aus dem Bahnhof und genau gegenüber auf dem Wagner-Platz ist die Information.
Mit beschlagener Brille überschaut man schon gar keine Plätze, sucht und sucht und weiß nicht, dass man längst verdammt ist in alle Ewigkeit im Zickzack ein unwegsames Gelände zu durchstreifen. Ich gebe es auf, die kurz gehaltene Dame vom Telefon verstehen zu wollen.
Was liegt also dem Bahnhof gegenüber?
Mit trübem Blick lese ich „Park Hotel“.
Die Dame an dieser Rezeption scheint sagen zu wollen, haben sie sich vielleicht verlaufen, meine Liebe, ich meine nur, denn unsere Klienten sehen auch an Regentagen nicht so stromlinienförmig aus. Wir tauschen ein winziges Lächeln und zur Versöhnung empfiehlt sie mir das Nichtraucherzimmer. Wegen des schöneren Interieurs, sagt sie. Merci.
Da war ich nun in dieser Stadt, in unmittelbarer Nähe der Bücher, aber immer noch Lichtjahre entfernt von den Ereignissen des folgenden Tages.
Natürlich musste ich mich zuerst einmal verlaufen oder zumindest annehmen, ich hätte mich verlaufen, denn sonst wäre ich vielleicht neugierig an einem der Bücherstände stehen geblieben, hätte mich in ein Buch versenkt... während Teo die letzten Schritte der vergangenen zwanzig Jahre auf mich zukommt ...
Unsere Schultern streifen sich fast, ich sehe sein Profil in Augenhöhe. Teo, sage ich. Er zieht mich am Handgelenk aus dem Gewühl in den Stand neben uns. Verwirrt hört er mir zu und schaut mir ernst in die Augen. Plötzlich umarmt er mich. Auch in den kleinen Gesten finden wir uns wieder.
Wir haben nicht viel Zeit für einander gehabt.
Was sage ich? Zwanzig lange Jahre haben wir uns Nischen gebaut und jetzt stürzten alle Mauern ein. Ich sehe ihn. Sanft, klar, liebevoll. Und genau das war es, was mich bei ihm unsicher gemacht hatte und immer noch unsicher macht. Soll ich ihm vielleicht sagen, was für eine Chaotin ich bin, und dass in meiner Familie überhaupt nur Chaos angesagt ist, und dass bei mir alles drunter und drüber geht und ich mir manchmal selber nicht über den Weg traue, ging mir damals wie heute durch den Kopf. Damals habe ich es empfunden und es war mir peinlich. Heute kann ich es aussprechen. Na ja, alles habe ich ihm nicht gesagt, aber dass ich ihm weh getan habe, damals, und dass es mir leid tut. Ist doch ein Ansatz, oder?
Vielleicht sollte ich schon einmal vorsorglich Abbitte leisten, falls ich noch einmal in Versuchung komme jemandem sagen zu wollen, „wo es lang geht“.
Teo und ich haben unsere Adressen ausgetauscht. Es war seine Idee. Mal sehen, ob und wie wir jetzt mit den Aufräumungsarbeiten an den gefallenen Mauern beginnen.
Du meinst, es wird neue Nischen geben? Ich denke, wenn die Vögel flügge sind, bauen sie ihre Nester auf anderen Grund. Aber du magst recht haben mit deiner Vermutung. Wir werden sehen, was ich dir demnächst anvertraue. Ich bin ebenso neugierig wie du und du weißt, dass ich viel Kraft habe und ich weiß, dass der Glück nur schwerlich zu teilen ist. Und daran müsste ich mich erst gewöhnen.
Schreib mir, wenn dir danach ist. Und schick mir Bilder. Ich schaue sie oft und gerne an. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob mich das Licht auf den Bildern träumen macht oder ob es meine Träume sind, die sich nach diesem warmen Licht sehnen.
Aus dem Herzen Deutschlands,
deine Amalie
P.S. Abgesehen davon, dass ich auf der Rückreise zum ersten Mal in meinem Leben in den falschen Zug gestiegen bin, habe ich auch noch den Schirm, den ich mir in L. gekauft hatte, im Zug nach Dessau stehen lassen. „White polarbear“ stand darauf.
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